Thema: 1989

Vor 20 Jahren in Dömitz: Als Engels verschwand und die Dannenberger kamen

Heißer Kaffee und Schmalzbrote waren am Sonntagmorgen in der Dömitzer Johanneskirche nach dem Gottesdienst willkommene Beigabe zu so manchem „Weißt-Du-noch?“-Gespräch. Die Erinnerungen richteten sich auf die Grenzöffnung vor 20 Jahren – Anlass für ein Feierprogramm auch in der Reuterstadt. Viele, die nun in der voll besetzten Kirche waren, hatten auch am 1. Januar 1990 dort gesungen und gebetet. An jenem Tag durften zum ersten Mal Besucher aus der Bundesrepublik ohne Formalitäten das Stahlgittertor in Richtung Dömitz passieren.

Viele, die nun in der voll besetzten Kirche waren, hatten auch am 1. Januar 1990 dort gesungen und gebetet. An jenem Tag durften zum ersten Mal Besucher aus der Bundesrepublik ohne Formalitäten das Stahlgittertor in Richtung Dömitz passieren.

In Sahneschrift: Dömitz grüßt Dannenberg

„Weißt du noch, als damals..?“ In Vielen wurden angesichts dieser Frage nun gewiss Bilder wach, die seinerzeit das Stadtbild prägten. Gäste kommen! Zum ersten Mal von „drüben“ - einfach so, ohne Besuchsantrag – mit der Fähre! Viele Dömitzerinnen und Dömitzer hatte diese Kunde auf die Beine gebracht. Irgendwas müssen wir doch machen für die Besucher... Durchaus nicht allein die offiziellen Stellen hatte dieser Gedanke bewegt, sondern auch „ganz normale“ Leute, die signalisieren wollten: Wir freuen uns, dass Ihr gekommen seid. Wie gut die DDR-Bürgerinnen und Bürger die Kunst des Improvisierens beherrschten und wie gut sie es verstanden, aus dem, was sie hatten, das Beste zu machen – das zeigte sich auch an jenem Neujahrstag.

Kaum hatten die Westdeutschen den Kontrollpunkt durchschritten, blickten sie auf Transparente mit Willkommensgrüßen, welche die Dömitzer rasch gefertigt hatten. „Prost Neujahr!“ rief es immer wieder den Ankommenden entgegen; und da zum Prost auch etwas zum Trinken gehört, hielten die Reuterstädter davon reichlich bereit, nicht nur in den Gaststätten: Da stand dann schon mal auf dem Bürgersteig ein kleiner Tisch, wo eine freundliche Frau belegte Brote anbot und Schnaps, Brause und Kaffee ausschenkte. Und in einem Hauseingang wartete ein fröhlicher Dömitzer mit einem Tablett voller kleiner Gläser auf, immer wieder „Kurze“ oder einen Weinbrand eingießend – zum Aufwärmen für die gerade von der Fähre kommenden Leute. Wer angesichts solcher Bewirtung das Portemonnaie zückte, konnte es gleich wieder wegstecken, denn: „Nix, nix – ihr seid heute unsere Gäste“ hieß es immer wieder, auch an Imbissständen, die Dömitzer hier und da platziert hatten. Eine besonders süße Begrüßung wurde den Westlern im Kulturhaus zuteil: Ein großer Pudding-Kirsch-Schokolade-Kuchen – so richtig nach Hausfrauenart „wie von Oma“ - stand dort bereit, geziert mit der Aufschrift aus Sahne: „Dömitz grüßt Dannenberg!“

Gut gelaunte Gesichter allerorten. Interessiert besichtigten die Gäste die Stadt, von der sie so lange getrennt waren, besuchten die Festung, das Museum. Manche wunderten sich auf einen Platz unweit des Rathauses über eine schlichte Säule, auf der etwas zu fehlen schien. Der Sozialist Friedrich Engels war weg! Irgend jemand hatte die Büste des Karl-Marx-Weggefährten über Nacht von der Säule abmontiert und entführt. Jener Engels ist bis heute nicht wieder aufgetaucht, ziert womöglich mittlerweile einen Partykeller oder dient irgendwo als Bücherstütze für die berühmten blauen Bände, die ausgewählten Schriften der genannten Genossen. Manch Besucher aus dem Westen staunte auch über das Feuerwehrgerätehaus, besser: über dessen Türmchen. Selbiges nämlich war von Unkundigen beim Blick von der alten Dömitzer Brücke nicht selten für einen Kirchturm gehalten worden; und da ganz in der Nähe auch der Turm der Johanneskirche zu erspähen war, wurde ab und zu gemutmaßt: Der eine Turm ist wohl der von der evangelischen, der andere der von der katholischen Kirche.

DDR-Würste für West-Delegation - „Oh, wie peinlich“

Fröhliche, lockere Neujahrsstimmung durchzog Dömitz am 1. Januar 1990. Von irgendwelchem Argwohn nach dem Motto „Na, was werden uns die Wessis wohl bringen??“ war nichts zu spüren; erfreulich für diejenigen Westler, die schon wenige Wochen zuvor als Mitglieder einer offiziellen BRD-Delegation nach Dömitz fahren durften, um mit DDR-Repräsentanten Details der Fährverbindung zu regeln. Die netten amtlichen Leute aus Ludwigslust und Dömitz hatten den Westbesuchern ein paar „Andenken“ an den Besuch überreicht, unter anderem lange Mettwürste, die oben aus der Geschenktüte ragten. Folge: Auf der Fähre in Richtung Dannenberg gabs „freundliche“ Kommentare aus DDR-Mund: „Jetzt kaufen die uns schon die Wurst weg, weil die bei uns billiger ist“ - das war noch das harmloseste. Der damalige Oberkreisdirektor Klaus Poggendorf zog sich die vertraute Schirmmütze tiefer ins Gesicht, Kreis-Ordnungsamtsleiter Alfred Braband blickte nur noch zu Boden und murmelte: „Wie peinlich, oh wie peinlich!“

„Wir sind auf dem Boden der Tatsachen gelandet“

An solche und viele andere Geschichten erinnerten sich Menschen von hüben und drüben nicht nur beim Kirchenkaffee, dem ein ökumenischer Festgottesdienst vorausgegangen war, musikalisch begleitet von Posaunenbläsern sowie Kirchenchören aus Dömitz und Dannenberg. Pastor Harold Kunas widmete sich in der Predigt unter anderem der Frage „was ist Freiheit?“ Freiheit bedeute zum Beispiel, dass „mich niemand abhört“. Es sei erschreckend, „wie mit diesem Grundrecht heute schon wieder umgegangen wird“. Pastorin Susanne Ackermann, Dannenberg, beleuchtete ebenfalls den Freiheits-Begriff und gab zu bedenken: „Wie frei ist denn einer, der Angst hat um seinen Job?“ Und: Ein „Riesen-Erlebnis-Bad“ zu bauen, dessen Eintritt aber von vielen kaum zu bezahlen sei, „das ist nicht Freiheit, sondern unverschämte Gier“. Zur Entwicklung in Deutschland seit dem Mauerfall resümierte Susanne Ackermann: „Wir sind auf dem Boden der Tatsachen gelandet“. Es sei anzustreben, dass die Menschen noch näher zusammenkommen, damit „alle Arroganz und Minderwertigkeitsgefühle“ verschwinden. Diakon Christophorus Baumert von der katholischen Kirchengemeinde Dömitz brachte im Fürbittengebet den Wunsch zum Ausdruck, dass alle noch vorhandenen unsichtbaren Mauern zwischen Ost und West durch gegenseitiges Akzeptieren abgebaut werden.

An die „Mauer in den Köpfen“ gemahnte auf der offiziellen 20-Jahr-Feierstunde in der Eventhalle am Hafen auch die Dömitzer Bürgermeisterin Renate Vollbrecht: Sie hoffe, dass in weiteren 20 Jahren eine Generation lebt, die diese Mauer nur noch vom Hörensagen kennt. Landrat Rolf Christiansen aus Ludwigslust rief die anwesenden politischen Kräfte auf, mehr den Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern zu pflegen. Auch müsse mehr auf das Thema „soziale Gerechtigkeit“ geachtet werden. Ohne eine solche werde es immer Spaltungen zwischen den Menschen geben. Anerkennend ging Lüchow-Dannenbergs stellvertretender Landrat Martin Donat auf das Engagement der DDR-Bürger hinsichtlich des Mauerfalls ein. Im Westen habe es leider auch Menschen gegeben, welche die Grenzöffnung vor allem nutzten, „um billiges Brot zu kaufen“. Jene Zeitgenossen hätten nicht die Größe des Moments begriffen, sondern ihren persönlichen Vorteil gesucht. Aber dies seien nur wenige gewesen. Klaus Wojahn aus Quickborn, seinerzeit stellvertretender Landrat in Lüchow-Dannenberg, rief vor allem den jüngeren Menschen im Saale zu: „Engagiert euch – damit nie wieder ein totalitärer Staat entsteht!“ Die meisten jungen Menschen, so freute sich der Bürgermeister der Samtgemeinde Elbtalaue, Jürgen Meyer, „kennen das Ost-West-Klischee gar nicht mehr“.

Foto-Ausstellung auf der Festung

Diejenigen jungen Leute, die das Geschehen vor 20 Jahren in Dömitz nicht selbst erlebten, können einen Eindruck von der Grenzöffnung und den damit verbundenen Ereignissen in einer Ausstellung gewinnen: Jürgen Scharnweber, Leiter des Museums Festung Dömitz, hat rund 90 Fotografien aus jenen Tagen zusammengestellt, die ab Dienstag bis Ende Februar 2010 in der Festung zu sehen sind.

Foto: Jürgen Scharnweber /Museum Festung Dömitz

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2009-11-08 ; von Hagen Jung (autor),

1989   ddr   mauerfall  

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