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Vor 20 Jahren in Dömitz: „Wie bei der Weihnachtsbescherung“

„Die Menschen hier fühlten sich wie Kinder, die ihre Weihnachts-Bescherung erleben – und fast jede Nachricht brachte neue Überraschungen“: So erinnert sich Pastor Harold Kunas aus Dömitz an jene Tage, in denen sich im November 1989 auch in der Reuterstadt blitzschnell die Nachricht von der Grenzöffnung verbreitete ... Doch aus Euphorie wurde bald Ernüchterung.

Viele warteten gespannt auf den Tag, an dem sich der Zaun vor der Elbe auftun und eine Möglichkeit zum Überqueren des Flusses in Richtung Westen geschaffen würde. Doch nicht alle Bescherungen aus dem Westen, welche dem Fall von Mauer und Stacheldraht folgten, brachten Freude nach Dömitz und Umgegend. Strahlten aus dem einen Paket die Reisefreiheit und die Möglichkeit, nun zwischen Dash und Omo und noch viel mehr wählen zu können, kroch aus einer anderen Bescherungsschachtel ein Gespenst namens Arbeitslosigkeit, das hämisch grinste: Klar, ihr dürft auf die Bahamas fliegen, aber nur, wenn ihr's bezahlen könnt!

„So ein Tag, wo wunderschön wie heute“

Harold Kunas hat das Empfinden der Bevölkerung vor 20 Jahren und heute mitempfunden. Nicht allein als Seelsorger der evangelischen Johanneskirchengemeinde, sondern auch unmittelbar nach der Wende als Mitglied des „Runden Tisches“ und in den folgenden Jahren als Stadtvertreter – im Westen würde man Ratsherr sagen – in den Reihen der Unabhängigen Wählergemeinschaft. Nach wie vor übt Kunas dieses Amt aus. Fragt man ihn nach der Stimmung, die in den Tagen der Wende in Dömitz herrschte, erinnert er sogleich an den 7. Dezember 1989. An jenem Tag öffneten Angehörige der DDR-Grenzorgane das Gittertor an der Elbe, das so lange verschlossen war: Die allererste Fähre in Richtung Kaltenhof startete, und dort warteten bereits Busse, welche die Gäste aus Dömitz nach Dannenberg brachten – zum Weihnachtsmarkt. „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, spielte ein DDR-Bürger auf dem Weg zur Fähre, er spielte es auf dem Schiff, und er spielte es auch noch auf dem Weihnachtsmarkt in der Nachbarstadt. Mit fröhlicher Musik begleitete auch die „Langendorfer Blasmusik“ die Abfahrt in Richtung Westen – auf DDR-Territorium. Ausnahmsweise durften die Musikanten dort aufspielen, obwohl Bundesbürgern das zwanglose Betreten des „Arbeiter- und Bauernstaates“ bei Dömitz noch gar nicht gestattet war. Doch die gute Stimmung war stärker als alles Offizielle. Eine Stimmung, die Harold Kunas mit „Jubel und Freude“ kennzeichnet.

Atmosphäre von Herzlichkeit geprägt

Einen Höhepunkt erreichte diese Hochstimmung am 1. Januar 1990: Erstmals konnten auch Bundesdeutsche problemlos nach Dömitz einreisen. Zwar musste sie sich am offenen Gittertor noch von DDR-Bediensteten einen Stempel in den Pass drücken lassen – aber das wars dann auch schon. Zum Neujahrsgottesdienst trafen sich Menschen aus Ost und West in der Johanneskirche, in der kaum noch Platz zu finden war. „Unsere Heizung war schon damals kaputt, und es war kalt in der Kirche – aber das hat niemanden gestört“, berichtet Pastor Kunas. Die Begegnungen der Menschen in der Stadt, in der eine eigenartige, irgendwie „leichte“ Atmosphäre zu spüren war, sei von Herzlichkeit geprägt gewesen. „Man hat sich einander gefreut“, blickt Harold Kunas zurück. Und es seien so viele Dinge gewesen, an denen sich die Dömitzer freuten, Beispiel: Endlich mal die Elbe ganz nah vor sich zu sehen, endlich mal mit dem Fahrrad am Fluss entlang fahren können - „Es war, als ob viele, viele Lasten runtergefallen waren“, umreißt der Dömitzer Pastor das damalige Erleben.

Wohl niemand hatte trotz aller Freude über die Grenzöffnung erwartet, dass diese Hochstimmung für immer bleibt. Wie in wohl jeder Beziehung, so Harold Kunas, gabs auch im Miteinander von Dömitzern und westlichen Nachbarn dann und wann Eintrübungen der anfangs so sonnigen Atmosphäre. Zwischen West und Ost sei leider auch so manches böse Wort gefallen. Da gab es Westler, die den Dömitzern vorhielten: „Was wollt ihr denn? Wir haben damals nach der Währungsreform mit 40 DM für jeden anfangen müssen, und dann hieß es arbeiten, arbeiten. Arbeitet ihr doch auch erst mal richtig, bevor ihr Ansprüche stellt“. Solche und andere Sprüche blieben nicht ohne Widerhall in und um Dömitz: „Besser-Wessi“ wurden nun jene betitelt, die den DDR-Bürgern „zeigen wollten, wie man's richtig macht“. Auch manch gut gemeinter Rat aus dem Westen wurde oft als unwillkommene Belehrung empfunden, weiß Harold Kunas. Doch für solche Reaktionen müsse man Verständnis haben: „Es gab nun mal unterschiedliche Denk- und Empfindensstrukturen. „Und 40 Jahre DDR – das ließ sich doch nicht einfach so von einem auf den anderen Tag abstellen“.

Irritiert sei man hier und da auf der Dömitzer Seite auch über das plötzliche Auftauchen von Konkurrenz zu bereits bestehenden Betrieben gewesen. „Wir kannten ja keinen Verdrängungskampf“. Dessen Auftauchen sei schon von einigen als „ganz schlimm“ empfunden worden. Neue Unternehmen aus dem DDR-Raum hätten oft Startschwierigkeiten gehabt, mit denen stabile Unternehmen aus dem Westen, die sich im Osten ansiedelten, nicht kämpfen mussten. Doch Dissonanzen zwischen Ost und West legten sich im Laufe der Zeit, so hat es der Pastor erfahren und resümiert: „Man ist ehrlicher miteinander geworden und hat erkannt: Probleme haben wir auf beiden Seiten der Elbe. Aber wer heute hier noch von Ost-West-Konflikt redet, der will etwas zementieren, was es nicht gibt“.

Große Angst um den Arbeitsplatz

Trauern manche Dömitzer angesichts der wirtschaftlichen Probleme in Deutschland der DDR nach? „Nein“, bekräftigt Harold Kunas, „ein Verlangen nach dem alten System“ könne er nicht feststellen innerhalb der Bevölkerung. Gewiss, es gebe einige, die gern beides hätten: Das Brötchen zum DDR-Tarif von 5 Pfennigen und den Flachbild-Fernseher zum Niedrigpreis aus dem West-Kaufhaus. Aber den meisten Bürgerinnen und Bürgern sei bewusst, dass es dies nicht geben könne: Annehmlichkeiten der freien Marktwirtschaft und zugleich eine staatlich gestützte soziale Sicherheit wie in der DDR. Der Verlust der Garantie auf Arbeit, wie sie es in der DDR gab, mache allerdings vielen Menschen große Angst, gibt der Pastor zu bedenken. Vor allem Bürgerinnen und Bürger, die das 50. Lebensjahr erreicht oder überschritten haben, litten sehr unter der Furcht, ihre Beschäftigung zu verlieren. „Gerade hier bei uns gibt es ja nur wenige Arbeits- und Ausbildungsplätze“, bedauert Harald Kunas. Er hätte sich gewünscht, dass seinerzeit, nach der Wende, mehr seitens der politischen Ebene für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Mecklenburg -Vorpommern getan worden wäre. „Wir haben eine schöne Landschaft hier – aber allein von Tourismus könne wir nicht existieren“. Junge Leute, so Kunas, hätten in Dömitz und Umgegend nur wenig Chancen, sich beruflich zu entwickeln; die Folge: Sie wandern ab, ziehen in die Ballungsgebiete. „Ich bin jetzt seit 23 Jahren hier in Dömitz Pastor“, schaut Kunas zurück, „und von all den jungen Menschen, die ich dieser Zeit konfirmiert habe, sind wohl gerade mal fünf hier geblieben“.

Wieder ein Problem, das nicht nur in Dömitz präsent ist, sondern an beiden Ufern der Elbe.

Foto: Hagen Jung

 

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2009-11-06 ; von Hagen Jung (autor),

ddr   1989   mauerfall  

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