Am 2. Mai 2010 sind eiserne Platten mit der Inschrift "Freie Republik Wendland" auf dem Frühjahrsmarkt in Trebel beliebtes Zierobjekt für den Garten - mit Spendenanteil für die Bürgerinitiative. Am 3. Mai 1980 war die Ausrufung der Freien Republik bitterer Ernst. 33 Tage lebten hunderte Atomkraftgegner auf der ersten Tiefbohrungsstelle im Gorlebener Wald den "Traum von einer Sache": einer Welt in Frieden ohne Atomwaffen und -anlagen.
Prolog: Am Abend des 2. Mai 1980 bekam Lilo Wollny einen Anruf vom Pastor der Gartower Kirchengemeinde. Wo denn ihre Tochter bliebe, fragte man wutentbrannt am anderen Ende der Leitung. Die Konfirmandenprüfung stünde an und Lilos Tochter war nicht aufgetaucht. Als Pastor Borowski hörte, dass die Konfirmandin sich auf der Besetzung der Bohrstelle 1004 befand, steigerte sich seine Wut noch mehr. "Sie gehört hierhin und nirgendwo anders!" fauchte er ins Telefon und harrte der Dinge. Mit dem Protest gegen die Gorlebener Atomanlagen hatte der Gartower Pastor nichts am Hut, die Konfirmation ging vor. Auch die Landeskirche hatte noch keine Meinung zu der Gorleben-Problematik. Erst später stellte sie Grundforderungen für ein Endlagerkonzept auf.
1980 - Deutschland soll in die Atomkraft einsteigen
Begonnen hatte das Jahr mit der Beerdigung Rudi Dutschkes, der am 24.12.1979 an den Spätfolgen eines Attentats gestorben war. Keine drei Tage gründete sich in Karlsruhe die „Grünen“ - damals die einzige Partei, die Umweltprobleme zum zentralen Thema ihrer Politik machte. Weder für die Gewerkschaften, noch für die SPD waren Umweltthemen relevant.
Im Gegenteil: die SPD unter dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt wollte in der Bundesrepublik unter allen Umständen die friedliche Nutzung der Atomkraft durchsetzen. Zu tief saß der Schock der Ölkrise in den 70er Jahren. Man wollte sich unabhängig machen von den aus dem Ausland importierten fossilen Brennstoffen. Das ehemalige Bergwerk ASSE II galt den Energiekonzernen zwar seit Ende der 60er Jahre als Entsorgungsnachweis, aber ein Endlager für hochradioaktiven Müll war noch nicht gefunden.
Am 6. Februar 1980 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Regierung. Eine Verfassungsbeschwerde von Atomkraftgegnern wurde abgewiesen. Die friedliche Nutzung der Atomkraft wurde als verfassungsgemäß eingestuft.
Bereits am 22. Februar 1977 hatte der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht Gorleben als Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum benannt. Zwar erklärte er am 16.5. 1979, dass dieses "politisch nicht durchsetzbar" sei. Doch an den Plänen für ein atomares Endlager in Gorleben hielt er fest.
In Lüchow-Dannenberg herrschte unangefochten in allen Gemeinden und auch in der Kreisverwaltung die CDU – der damalige Oberkreisdirektor Klaus Poggendorf unterstützte mit allen Mitteln die Pläne der Bundes- und Landesregierung, erhoffte er sich doch einen warmen Geldsegen für die arme Region am Rande der Republik.
Gorleben wird zum Symbol für Widerstand
Doch längst hatte sich auch in der Region Widerstand gegen die Atompläne formiert. Spätestens seit dem Tag der Standortbenennung Gorlebens wuchs die Bewegung im Wendland stetig. Mit dem legendären „Treck nach Hannover“ hatten die wendländischen Bauern eindrücklich bewiesen, dass sie mit ihrem Protest nicht alleine stehen – über 400 Trecker rollten letztendlich in Hannover, dem Sitz der Landesregierung ein.
Im August 1975 hatte ein Großbrand rund 16 km² Wald zwischen Trebel und Gorleben zerstört. Da in dieser Zeit mehrere Waldbrände in der Lüneburger Heide tobten, hatte sich zunächst niemand etwas dabei gedacht. Erst später stellten Atomkraftgegner fest, dass es zeitnah zu diesem Brand auch an anderen Stellen rings um Gorleben gebrannt hatte – immer an Plätzen, die sich später als möglicherweise Endlagerstandorte herausstellten.
Im Jahre 1980 lag die riesige Waldfläche immer noch in Schutt und Asche, niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Wald wieder aufzuforsten. Kein Wunder, denn wie sich in der Zeit nach 1977 herausstellte, sollten genau hier die ersten Probebohrungen stattfinden, die die Erkundung des ehemaligen Bergwerks einzuleiten.
28.März 1979: Im Atomkraftwerk Three Miles Island nahe Harrisburg in den USA kam es zu einer partiellen Kernschmelze, in dessen Folge ein Drittel des Reaktorkerns fragmentiert wurde.
Das zunehmende ökologische Bewusstsein in der Bevölkerung, der Unfall von Harrisburg, die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Deutschland, aber auch zunehmendes Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit hatten in ganz Deutschland die Friedensbewegung, Hausbesetzer, Anti-Atom-Initiativen aber auch soziale Lebensformen und Naturschutzgruppen erstarken lassen.
Immer mehr wurde "Gorleben" zum Synonym für politische Willkür und fehlgeleitete Energiepolitik. Aber auch die Sehnsucht nach neuen Lebensformen brachte viele Kreative und politisch Interessierte ins Wendland.
Der Standort wird manifestiert
Lilo Wollny, spätere Bundestagsabgeordnete für die Grünen, damals noch „schlichte“ Mutter von sechs Kindern und Mitglied der bereits 1977 entstandenen Bürgerinitiative, erinnert sich: „So kam das Jahr 1980 heran und damit der Termin für die ersten Tiefbohrungen. Es muß noch erwähnt werden, dass während der Sommermonate überall im Landkreis dezentrale Sommerlager abgehalten wurden."
Zu Ostern 1980 hatten die Gorleben-Frauen ein internationales Frauentreffen organisiert, zu dem mehr als 3000 Frauen kamen. Ein zentrale Aktion unter den vielzähligen Veranstaltungen war ein Nacht-Spaziergang zum Bohrplatz. Lilo Wollny: "Der Weg zwischen dem Spielplatz, auf dem unser Treffen stattfand und der Bohrstelle ( an dem Ort des jetzigen Zwischenlagers) war ein schmaler Trampelpfad durch den verbrannten Wald entstanden – ich schätze die Entfernung betrug etwa 3 km. Es war stockfinster und man konnte höchstens zu zweit nebeneinander gehen. Wir warteten , bis die meisten Frauen sich auf den Weg gemacht hatten und setzten uns dann auch in Bewegung. Ab und zu leuchtete eine Fackel auf (etwa jede 50. Frau hatte eine Fackel), wenn die Trägerin über einen Hügel ging. Auf diese Weise erkannte man, dass die Reihe riesig lang war. Irgendwann stimmten weit vorn einige Frauen ein Wolfsgeheul an, dass sich langsam durch die Reihen fortsetzte. Es klang ganz schaurig durch die Dunkelheit.
Doch als wir dann an der Bohrstelle ankamen und der Kreis aus Frauen sich um die wenigen „Bewacher“ geschlossen hatte, war alle Angst verflogen, die Stimmung großartig. Die Bemühung, die eingebauten Wasserwerfer in Betrieb zu nehmen, geriet zu einem ziemlich kläglichen Versuch und würde mit Gelächter und Spott aufgenommen. Es war fast 3 Uhr nachts, als wir endlich zuhause ankamen. Am Ostersonntag gab es dann am Nachmittag eine Demo mit Männern und Kindern, an der sich auch die Gorlebengegner aus dem Landkreis beteiligten."
Bei dieser Gelegenheit wurde von Rebecca Harms ( damals gerade 23 Jahre alt und Mitbegründerin der BI) die „vorläufige Inbesitznahme“ des Geländes um die geplante Tiefbohrstelle 1004, der „Keimzelle der Republik freies Wendland“, verlesen. Der Text dieser „Verordnung“ entsprach dem Schreiben, mit dem die Besitzer von Grundstücken, auf denen Bohrungen vorgenommen werden sollten, vorübergehend enteignet wurden.
Lilo Wollny: "Die nächsten Wochen vergingen mit Vorbereitungen für die Bohrplatzbesetzung. Zum Beispiel wurde ein Dorfplatz vorbereitet, der zum Mittelpunkt des geplanten Hüttendorfes werden sollte. Bundesweit wurde für die Teilnahme geworben, Veranstaltungen wurden geplant und abgesprochen. Zwischendurch gab es heftige Auseinandersetzungen mit einigen Leuten aus Gorleben. Sie waren seit einiger Zeit im Landkreis, nannten sich die „Stadtindianer“ und hatten Schwierigkeiten in der Auffassung vom Widerstand mit der BI, besonders aber mit den Bauern.
Sie hatten sich entschlossen zur Vorbereitung der Aktion den Platz schon mal zu besetzen. Zu dem Zweck waren sie schon Wochen vor dem verabredeten Termin auf den Platz gezogen und hausten dort in so etwas wie einer Erdhöhle. Wir hatten Sorge, dass dadurch die Polizei frühzeitig aufmerksam werden könnte. Leider waren sie allem Zureden völlig unzugänglich, im Gegenteil, entwickelten sie eine Abneigung gegen die BI (wobei damit insbesondere der Vorstand gemeint war), die in gewisser Weise bis heute nachwirkt."
Nach langen Überlegungen war schließlich der 3. Mai für die Besetzung festgelegt worden. Die Teilnehmer sollten sich in Trebel versammeln und dann gemeinsam zu der Stelle marschieren, wo demnächst die Bohrstelle 1004 – nach der Bohrung „1003“ und „1002“ die dritte Tiefbohrung zur Vorbereitung des Endlagers errichtet werden sollte.
Lilo Wollny: "Das Freundschaftshaus war von Zimmerleuten im Vorfeld vorbereitet worden. Es war sozusagen ein fertiger Bausatz, der nach Erreichen des Bohrplatzes nur noch aufgestellt werden musste. Es war das einzige Haus, das vorgeplant war. Ich glaube, es hatte sein Vorbild in der Platzbesetzung in Wyhl, es sollte zum Versammlungsort und zum Mittelpunkt des entstehenden Hüttendorfes werden."
Wenige Tage später war das Dorf schon zu erstaunlicher Größe gewachsen. Lilo Wollny: "Jede Menge von zum großten Teil aus Brandholz gebauten Hütten waren entstanden. Es gab Blumengärten, eine Schweinebucht mit zwei Läufern, Hühner und Enten – es war einfach großartig überall lachende, gutgelaunte junge Menschen, die zumeist geschäftig beim Bauen waren oder sich sonst betätigten, zu sehen. Am Eingang war ein Infohaus eingerichtet, wo Besucher sich mit Materialversorgen konnten, gegenüber gab es einen Stand für den Kauf von 'Wendenpässen'."
Denn die Gründung der "Freien Republik Wendland" war durchaus ernst gemeint. Jedem war bewusst, dass dieses Dorf keinen Bestand haben würde, doch trotzdem wollte man in der Zeit, die man dort gemeinsam verbrachte, einen Traum leben - dem Traum vom gemeinsamen Leben nach anderen, neuen gesellschaftlichen Kriterien. Energie zum Heizen sollten Sonne und Wind liefern - die erste Solaranlage und ein Windkraftrad entstanden auf "1004". Das soziale Leben sollte anders funktionieren, gerechter, friedlicher. Jeder Bewohner des Dorfes sollte mitbestimmen dürfen, was passiert. Sogar ein eigenes Medium gab es im Hüttendorf. "Radio freies Wendland" berichtete als Piratensender regelmäßig vom Dorfgeschehen.
Mit Grenzzaun und Paßstelle wurden allerdings auch einige Elemente der "normalen" Gesellschaft übernommen - wenn auch mit einem Augenzwinkern. Es ist überliefert, dass die Pässe so echt aussahen, dass Einige damit durch Afrika gereist sind oder Zutritt zum Bundestag bekamen.
Von Anfang an dabei - die wendländischen Bauern
Ohne atomkritische Landwirte wäre der wendländische Widerstand nicht das, was er ist. Natürlich waren Mitglieder "Bäuerlichen Notgemeinschaft" auch an der Bohrplatzbesetzung beteiligt.
Nur durch ihr tatkräftiges Engagement war es möglich, dass das Dorf letztendlich aus 110 Hütten bestand. Die Baumstämme, aus denen z.B. das große Freundschaftshaus fachmännisch aufgebaut worden war, kamen aus den umliegenden Wäldern, deren (atomkritische) Besitzer das Holz zur Verfügung gestellt hatten. Einen Sportplatz gab es ebenso wie einen Kirchplatz und eine Klinik - auf deren Türschild sich das Rote Kreuz nach oben zu einer Faust reckte. Selbst eine akkurat angelegte Mülldeponie fehlte nicht.
Zwischen einem fast 10 m hohen Gerüst schwebte eine riesige Schiffschaukel, die als Zufluchtsort bei der erwarteten Räumung dienen - und so die Einnahme durch die Polizei erschweren - sollte.
Epilog: Am 2. Mai 2010 wird im Hause Wollny wieder Konfirmation gefeiert. Diesmal ist es der Enkel der damals jüngsten Tochter, der sich an diesem Tag zur Kirche bekannte. Doch anders als damals ist der heutige Gartower Pastor der Endlagerbeauftragte der Evangelischen Landeskirche, ist seit Jahren mit fast allen Kollegen aus der Region im Widerstand aktiv und arbeitet mit unermüdlichem Einsatz dafür, dass ein mit der Bevölkerung abgestimmtes Endlagerkonzept erstellt wird, welches zunächst festlegt, welche Sicherheitskriterien für ein atomares Endlager gelten müssen.
In vieler Hinsicht haben sich die Zeiten geändert - in einer allerdings auch nach über 30 Jahren immer noch nicht: Trotz aller Zweifel und aktuell bewiesener Manipulationen in der Geschichte der Standortbenennung bleibt Gorleben heute wie damals einziger konkret benannter Standort für die Endlagerung hochradioaktiven Mülls.