Ein Vortrag von Tanna Kühnemund vom letzten als Lockstoff für den nächsten „PoetrySlam“
Das Wendland ist nicht wirklich dicht besiedelt, mit Ausnahme der Metropolen Lüchow und Dannenberg. Zu engem Körperkontakt kommt man hier nicht aus Versehen. Das muß man schon planen. Deshalb veranstaltet unsere Regierung hier Castortransporte.
Uns Wendländern fehlt viel. Industrie, Autobahnen, Arbeitsplätze, Bevölkerungsdichte, Enge, Dealer, U-Bahnen, Aggression, Nähe. Unsere Möglichkeiten, am sozialen Leben teilzunehmen erhöhen sich jeden November. Wir beginnen zu kommunizieren.
Was viele Menschen in Kurkliniken, Psychiatrien und ähnlichen Einrichtungen erfahren, dürfen wir Wendländer uns unter hilfreicher Anleitung in nahezu 1:1-Betreuung selbst erarbeiten. Unbezahlbar viele Polizisten und Polizistinnen geben ihre gewohnten Hobbys und familiären Verpflichtungen, ihren Anspruch an Hygiene und Essen auf, um uns Wendländer gratis und ohne Krankenkassenleistung zu therapieren. Sie unterstützen uns in unserer demokratischen Selbstfindung, helfen uns, in Interaktion mit anderen zu treten, beobachten uns beim Vernetzen und Widersetzen und dokumentieren akribisch und liebevoll unsere kreativen Aktionen in detaillierten persönlichen Akten, Fotografien und Filmchen. Ihr Interesse an unserer Entwicklung ist enorm. Sie ermuntern uns auch zu motorisch-funktionellen und physikalischen Therapien.
Wofür andere Bürger in Kurzentren versandt werden: wir Wendländer bekommen die hilfreichsten Behandlungen vor Ort in unserer geliebten Heimat! Durch enges Aneinanderrücken auf den schmalen Schienen und festes Angepacktwerden durch trainierte Polizeigewalt in positiver Anwendung lernen wir unsere Körper zu spüren und Grenzen wahrzunehmen. Wo fängt mein Körper an, wo hört er auf? Ist die Berührung des Polizisten dieselbe wie die des Mitdemonstranten, oder empfinde ich diese Berührungen unterschiedlich? Was bewirkt der feste Griff des Polizisten bei mir? Zuallererst eine positive Massage des Bindegewebes, die wir als Prävention von Bingowings begrüßen, diese schlabbernden Oberarme älterer Damen, deren Hobby Bingo und nicht Castor war.
Durch das Zurückdrehen der Oberarme auf den Rücken beschleunigt sich der Abtransport von Schlackestoffen aus den Gelenken, und die aktive Gelenkmobilisation an den oberen Extremitäten fördert somit auch die Durchblutung, verbessert den Sauerstofftransport im Blut und erhöht die Heilungskapazität bei eventuell auftretenden Verletzungen.
Während der äußeren Anwendung befinden wir uns auf einer Achterbahn der Gefühle, Ups ‘n’ Downs, bis hin zur Affektinkontinenz. Lachen, Weinen, Lachen, Witze machen, Synapsen in Erregung, Neurotransmitter wild unterwegs. Dem Nachbarn beim Frieren zusehen und beim Schwitzen und beim Urinieren teilnahmsvoll dabei sein, Pheromone und Angstschweiß unterwegs. Es ist was los! In uns und um uns herum tobt der Castor.
Unsere Polizisten scheuen keinen Arbeitseinsatz, kein Risiko. Kneipp-Anwendungen und Kryotherapie mit Kälte in der Geborgenheit der Gemeinschaft und im sich zart senkenden Morgentau wendischer Novembermelancholie. Unter Einsatz enorm kostenaufwändiger Gerätschaften kommt das Therapiemittel Wasser gezielt und in kräftig gebündeltem Strahl zur Anwendung. Dankbar sind wir für das Abtragen abgestorbener Hautschüppchen durch den Hochdruck, sowie für den durchblutungsfördernden Aspekt, da durch die extreme Kälte nach Vasokonstriktion der Gefäße schon Minuten später Vasodilatation einsetzt.
Die Weiterstellung der Arterien und Venen führt nicht zuletzt auch zur besseren Durchblutung des Gehirns und Erhöhung der Zuflußgeschwindigkeit der Carotiden, sondern wirkt sich auch enorm positiv auf das gesamte cardiovasculäre System aus – der Wasserwerfer als therapeutisch eingesetzter Herzschrittmacher.
Aus purer Sorge, wir könnten Krampfadern bekommen, nehmen wir an Blockadeaktionen teil. An Thrombosen und Phlebitiden werden wir dank unserer in Heerscharen angereisten Polizei nicht erkranken. Aufgrund der – außer im November – fehlenden Enge sind wir Wendländer in Singlebörsen und Chatforen unterwegs, planen unsere Dates, und immer wieder fehlt uns dabei der gemeinsame Nenner. Wir Wendländer beschäftigen uns mit wendländischen Themen, und die zahlreichen geplanten Verabredungen scheinen zwar sexuelle Befriedigung zu versprechen, doch wahre, tiefe Beziehungen knüpfen wir im Zustand der Castor-Ekstase, wenn wir uns gegenseitig aus den nassen Klamotten helfen, unsere blaugeschlagstockten Körper bestaunen, endlich unsere Fetische: Strohsäcke und Plastikplanen, knisternde silberngüldene Rettungsdecken, weiße Arbeitsanzüge genießen, wo auch die kleine S-M-Neigung angesprochen, wir dann ganz passiv, die hübschen Polizistinnen übernehmen den aktiven Part, wo wir unsere Körper ganz neu entdecken dürfen. Bis zur körperlichen Unkenntlichkeit waren wir eingepackt in die Wintermode der vergangenen Jahre und letzten Kriege, in Wolle, alte Pelze, Sondermüll-Fleece, alles, was wärmte, streifen wir uns gegenseitig von den zitternden nassen, blicken wir uns gegenseitig von den zitternden Leibern, blicken uns dabei tief in die Augen und unsere Demonstrantenseelen werden eins, während wir uns gegenseitig unsere psychischen und physischen Wunden lecken.
Der nächste Poetry-Slam findet am Freitag, dem 4. November von 19 bis 22 Uhr im Rahmen der Marathon-Blockade „gorleben365“ direkt am Schwarzbau statt. Wie immer gibt es die Abteilung der eigenen Texte und den eigentlichen Slam, bei dem auch Zitieren erlaubt ist. Sitzgelegenheiten und was Warmes mitzubringen, kann nicht schaden.