Auf der Welt gibt es fast eine Milliarde Menschen, die hungern müssen. Davon sind rund die Hälfte selber Kleinbauern, die sich eigentlich ihre Lebensmittel selbst produzieren könnten. Gleichzeitig wurden weltweit im vergangenen Jahr soviel Lebensmittel produziert wie nie zuvor. Dass nur ein Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft diesen Zustand ändern kann, erläuterte detailreich am Mittwoch Abend Benny Härlin von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft in Dannenberg.
Bereits im Jahre 2003 initiierten die Weltbank und die Vereinten Nationen einen internationalen Prozess, der klären sollte, wie „durch die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von landwirtschaftlichem Wissen, Forschung und Technologie Hunger und Armut verringert, ländliche Existenzen verbessert und gerechte, ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung gefördert werden kann.“
Schon dieser Ansatz sei revolutionär gewesen, so Benny Härlin am Mittwoch Abend im voll besetzten Saal des Hotels Alte Post in Dannenberg. „Normalerweise wollen solche Prozesse eine Lösung für genau umrissene Problembereiche liefern“, so Härlin. „Mit dem Weltagrarbericht sollten aber zunächst die Probleme aufgezeigt werden, die eine Vermeidung bzw. Verringung von Hunger und Armut verhindern.“
Und derer sind viele, wie Härlin in seinem fast eineinhalb-stündigen Vortrag erklärte. Neben der Versauerung der Ozeane und dem Klimawandel sind es weitere acht kritische globale Kreisläufe, die durch die Art und Weise wie weltweit Landwirtschaft betrieben wird, existenziell beeinflusst werden.
Umweltprobleme durch die Landwirtschaft
So sind es vor allem die durch eine intensive Landwirtschaft bedingten hohen Stickstoff-Emissionen sowie der Verlust der Artenvielfalt, die sich massiv im roten (kritischen) Bereich befinden und mit dafür sorgen, dass den Ozeanen im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr „die Luft ausgeht“.
Durch Transport, Nutzung von Energie, durch Abholzung oder industrieller Verarbeitung ist die Landwirtschaft massiv an der Erderwärmung beteiligt. Wie der Bericht feststellte, werden 40 % der klimaschädlichen Gase allein durch landwirtschaftliche Produktion ausgestoßen.
„Die Rolle der Landwirtschaft wird in Zukunft zentral für das Überleben der Menschheit sein“, war sich denn auch Benny Härlin sicher, der in der Vorbereitungsgruppe für den Weltagrarbericht mitgearbeitet hatte. Rund 40 Organisationen und Regierungen aus letztlich 58 Ländern hatten in einem jahrelangen Prozess Beiträge von 500 WissenschaftlerInnen weltweit organisiert, diskutiert und im Abschlussbericht zusammengefasst.
Hunger ist eine Frage der politischen Priorität
Aber es sind nicht nur Umweltprobleme, die bei einer unveränderten Landwirtschaft zu existenziellen Krisen führen werden. „Indien z.B. ist ein Netto-Exporteur und trotzdem hungern in diesem Land sehr viele Menschen“, so Härlin. Nach den Erkenntnissen des Weltagrarberichtes sind es vor allem politische Prioritäten, die den Welthunger befördern.
Beispiel Flächenverteilung: Von den 525 Mio. Bauernhöfen, die weltweit existieren, befinden sich 87 % in Asien und lediglich 1 % in Amerika. Doch während in Nordamerika ein Farmer durchschnittlich 121 ha Land bewirtschaftet, sind es in Asien lediglich 1,6 ha, die einem Kleinbauern für die Lebensmittelproduktion zur Verfügung stehen. „Dabei sind es vor allem die Kleinbauern, die das Überleben sichern,“ so Härlin. „85 % aller Bauern bewirtschaften weniger als 2 ha. Und dort sind es hauptsächlich die Frauen, die für das Überleben sorgen.“
Beispiel Preispolitik: Seit der Jahrtausendwende werden die Preise für Getreide an den Ölpreis gekoppelt, seitdem ist der Preis für Lebensmittel immer wieder sprunghaft gestiegen – korrespierend zum Ölpreis, wie eine Grafik anschaulich zeigte. Eine Forderung des Weltagrarberichts ist deshalb, den Getreidepreis wieder vom Rohölpreis abzukoppeln.
Viele Lebensmittel landen im Müll - oder dienen der Tierfütterung
Eigentlich werden weltweit genügend Lebensmittel produziert – 2011 gab es mit 2,3 Mrd. Tonnen sogar die größte Getreideernte aller Zeiten. Doch von diesen Mengen wurden gerade einmal 46 % als Lebensmittel genutzt. 34 % wurden als Tierfutter genutzt, weitere 20 % für die Produktion von Energie und anderes. „Und zusätzlich gehen noch 56 % in der Lebensmittelkette verloren – entweder durch den Verlust von Ernten, für die Tierfütterung oder durch Verteilungsverluste und Abfall“, erläuterte Härlin. Allein in Europa würden 30 – 40 % der Lebensmittel weggeworfen.
Forschung muss wieder öffentlich finanziert werden
Eine Marktkonzentration auf im wesentlichen 10 „Global Player“ tut ihr Übriges, um die Verhältnisse im weltweiten Lebensmittelmarkt zu verzerren. Den Saatgut-Markt zum Beispiel halten diese 10 Unternehmen zu 67 % besetzt, den Biotechnologie-Markt (z.B. Gentechnik) besetzen diese Unternehmen sogar zu nahe zu 100 %. Allein die Firma Monsanto verkauft weltweit 40 % des Mais-Saatguts, gleiches gilt für Gurken.
Ein großes Problem dabei ist auch, dass die Forschung im Bereich der Landwirtschaft zum großen Teil von diesen Konzern entwickelt, durchgeführt und finanziert wird. Im Umkehrschluss: es wird nur das geforscht, was die Konzerne interessiert. Schon jetzt sind nach Angaben von Benny Härlin die Forschungsausgaben von Monsanto und dem Konzern Syngenta doppelt so hoch wie der CGIAR (International Agriculture Research Centers).
Der Weltagrarbericht fordert deshalb, der Privatisierung der Agrarforschung Einhalt zu gebieten, damit wieder Themen erforscht werden, die für das Überleben von Welt und Menschheit wichtig sind.
Fleisch frisst Land
Vor allem der hohe Fleischkonsum in der westlichen Hemisphäre trägt zum Welthunger bei. In den letzten Jahren ist der Verbrauch um satte 320 % gestiegen. Ganze 83 kg futtert der Durchschnittsmensch in den Industrieländern jährlich an Fleisch in sich hinein, während es in den Entwicklungsländern unter 10 kg pro Jahr sind.
Dabei hat die Fleischproduktion eine äußerst magere Energiebilanz: für die Produktion eines Hamburger mit Pommes braucht es zum Beispiel fast Quadratmeter Ackerfläche. Beim derzeitigen Fleischkonsum in Europa bräuchte es dementsprechend ca. 1000 qm Futteranbaufläche, um für einen einzelnen Europäer den Fleischappetit für ein Jahr zu decken. Zum Vergleich: die notwendige Anbaufläche für den Jahresbedarf an Kartoffeln liegt nur bei ca. 15 qm.
Bleibt es also bei einem Verbrauch wie bisher, so hat der ehemalige FAO-Vertreter Josef Schmidthuber schon recht, wenn er meint, die weltweite Agrarproduktion müsste in den nächsten 40 Jahren um 70 % gesteigert werden. „Eine derartige Steigerung ist aber nicht denkbar, nicht sinnvoll und gemeingefährlich“, so Härlin. Denn die weltweite Landwirtschaft ist heute schon für einen Großteil der Erderwärmung verantwortlich.
Wir alle sind verantwortlich
Sieben zentrale Botschaften sind es, die der Weltagrarbericht den Verantwortlichen weltweit mit auf den Weg gibt:
- die Landwirtschaft muss als wesentlicher Teil eines komplexen Systems begriffen werden, da sie zentralen Einfluss auf viele Lebens- und Umweltbereiche hat
- Hunger ist nur vor Ort zu überwenden
- die Kleinbauern sind entscheidend. Ihre Produktionsfähigkeit muss gesteigert werden
- dabei sind vor allem die Bäuerinnen wichtig
- eine Agrarökologische Revolution ist gefragt
- Es muss mehr öffentliche Forschung durchgeführt werden, die das tradierte Wissen der Bauern und Bäuerinnen mit aufnimmt; keine Hightech-Forschung
- Landwirtschaft muss sich am Konzept der "Ernährungs-Souveränität*" orientieren, nicht am Leistungsprinzip.
*"Ernährungs-Souveränität" = das Recht von Menschen und Staaten auf demokratische Weise ihre eigene Agrar- und Ernährungspolitik zu bestimmen.
Doch es wird kein leichter Weg sein, weltweit diese sieben Botschaften des Weltagrarberichtes durchzusetzen. Es wird nur gemeinsam gehen - und es wird ein langer, steiniger Weg werden. Dabei sind nicht allein Politik, Konzerne und intensiv wirtschaftende Großbauern verantwortlich. Die Konsumenten tragen mit ihrem Einkaufs- und Essverhalten entscheidend zur Veränderung landwirtschaftlicher Verhältnisse bei.
„Es macht aber keinen Sinn, den Menschen, missionarisch erklären zu wollen, wie sie sich nun 'politisch korrekt' zu ernähren haben“, warnte Härlin vor Übereifer in der Missionierung der Nachbarn. „Nur wenn Menschen einsehen, warum etwas gut für sie ist und wenn sie Spaß daran haben, ihr Ess- und Einkaufsverhalten zu ändern, dann wird sich auch etwas tun.“
Dabei setzt Härlin auf die Wiederentdeckung der Freude am Gärtnern und erinnerte an ein Projekt der früheren US-Präsidentengattin Eleonore Roosevelt, die im zweiten Weltkrieg die Anlegung von „Victory Gardens“ forcierte: Jede/r US-BürgerIn sollte sich einen kleinen Haus-Gemüsegarten anlegen. Das Projekt fand Anklang und die Selbstversorgung der US-Bürger konnte auf 40 % gesteigert werden.
Deswegen rief Härlin zum Schluss seines Vortrages dazu auf, nicht nur „Yes we Can“ zum Motto zu nehmen, sondern „Yes we can do it“.
Der Weltagrarbericht steht in verschiedenen Versionen auf der Website der Initiative www.weltagrarbericht.de zum Download bereit.
Foto: Benny Härlin, Büroleiter Berlin der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, bei seinem Vortrag in Dannenberg