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Frei bleibt Frei - Wikipedia-Sperre aufgehoben

Drei Tage lang war die deutsche „Ausgabe“ von wikipedia.de nicht direkt erreichbar. Der Bundestagsabgeordnete Lutz Heilmann (Die Linke) hatte eine einstweilige Verfügung erwirkt, weil er mit dem Inhalt eines Artikels über ihn nicht einverstanden war. Doch der Schuss ging nach hinten los: wikipedia konnte extrem hohe Spenden verbuchen und die Kritik an Heilmann fand sogar den Weg in die Leitmedien.

Wer am Wochenende etwas bei wikipedia.de nachschlagen wollte, traute seinen Augen kaum: statt des gewohnten Suchfensters erschien lediglich die Mitteilung des Projektes, dass wikipedia.de aufgrund einer gerichtlichen Anordnung des Landgerichts Lübeck direkt nicht erreichbar sei. Konnte es wirklich wahr sein, dass eine ganze (bzw. die Weiterleitung zu einer) Website gesperrt werden kann, nur weil ein einziger Artikel – eventuell – falsche Behauptungen enthält? Die Netzwelt hielt vor Schreck die Luft an - und empörte sich in unzähligen Kommentaren und Diskussionsbeiträgen über Heilmann und seinen Versuch, die Pressefreiheit "stasimässig" zu beschränken.

Dabei waren die Informationen über Heilmanns Stasivergangenheit nicht neu. Bereits 2005 war in einem Spiegel-Artikel ausführlich über Heilmann und seine Stasi-Verbindungen berichtet worden. zurück, nachdem (Zitat): „Nachdem die falschen, ehrabschneidenden und deshalb mein Persönlichkeitsrecht verletzenden Inhalte weitgehend aus dem entsprechenden Artikel entfernt wurden, habe ich gegenüber dem Wikimedia e.V. erklärt, dass ich keine weiteren juristischen Schritte unternehmen werde und die Weiterleitung auf die Wikipedia-Inhalte wieder geschaltet werden kann», so der Bundestagsabgeordnete. Im Sinne der Rechtssicherheit wäre es vielleicht besser gewesen, er hätte es auf einen Prozess ankommen lassen – dann wüsste die Blogger-Gemeinde demnächst, wie die deutsche Rechtsprechung mit Netzinhalten umzugehen gedenkt.

Apropos Recht: Interessanterweise ist Lutz Heilmann nach der auf bundestag.de veröffentlichten Biografie seit April 2005 Rechtsreferendar beim Landgericht Lübeck - eben jenem Gericht, welches jetzt die einstweilige Verfügung gegen wikipedia erliess ... Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die Blogger-Gemeinde schlägt zurück

Heilmann hatte wohl nicht mit einer vehementen Gegenwehr-Kampagne im Netz gerechnet. Nicht nur, dass die Printmedien von Spiegel bis Welt sich des Themas an prominenter Stelle annahmen – nein, auch im Netz hagelte es Kritik an Heilmanns Verhalten. Und das Interesse an seiner Geschichte wuchs ins Unermessliche: Hatten vor Heilmanns gerichtlichem Verbot gegen wikipedia.de nur einige hundert User den Artikel über ihn gelesen, so waren es bis Montag Mittag über 100 000, die sich für die Lebensgeschichte Heilmanns interessierten. 

Und nicht nur das: seit Freitag brach im Diskussionsforum zu dem umstrittenen Artikel eine Debatte los, die sich durch drei ganze Nächte zog. Selbst morgens um 04:00 waren engagierte wikipedia-Autoren noch dabei, Feinheiten in der (Neu-)Formulierung des „Heilmann“-Artikels zu diskutieren.

Ein Novum in der - deutschen - Internetgeschichte

Auch in der politischen Bühne hat Heilmann mit seinem Vorstoss für Unruhe gesorgt. Sowohl führende Politiker der FDP als natürlich auch der LINKEN sahen Grund, sich in Presseerklärungen zu der Sperrung zu äußern.

Gisela PILTZ, innenpolitische Sprecherin der FDP und der Medien- und Internetexperte der FDP-Bundestagsfraktion Hans-Joachim OTTO: „Natürlich muss es jedermann im Rechtsstaat möglich sein, gegen ehrverletzende oder unwahre Tatsachenbehauptungen vorzugehen. Es ist aber nicht hinnehmbar, dass dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit außer Acht gelassen wird. Meinungs- und Pressefreiheit gehören zu den höchsten Gütern des Rechtsstaats und einer freien, demokratischen Gesellschaft. Es ist unverhältnismäßig, ein ganzes Informationsportal zu sperren, um einen einzigen Beitrag unzugänglich zu machen. Hier zeigt sich dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf - auch wenn die Seite mittlerweile wieder erreichbar ist.“ Beide fordern „endlich“ eine gesetzgeberische Lösung, die dem Internetzeitalter gerecht wird.

Selbst Heilmanns eigene Partei, die LINKE, distanzierte sich im „Fall Wikipedia“ von Heilmann: Parteivorsitzende Petra Pau in einer Erklärung auf dem Internetportal der LINKEN: „Wir kämpfen seit Jahren gegen immer wieder mal geäußerte Bestrebungen, das Internet zu zensieren, egal aus welcher Ecke sie auch kommen". Den großen und demokratischen Fortschritt des Wikipedia-Prinzips sieht sie darin, "dass es dort keinen Ober-Zensor gibt und keine Chef-Redaktion, die eine politische Linie vorgeben kann."
Auch wenn sie es vermeidet, den Namen Heilmann zu nennen, nimmt Pau doch auch Bezug auf den aktuellen Streit um Wikipedia und um die Forderung, die deutsche „Ausgabe“ aus dem Netz zu nehmen, weil dort Falsches vermeldet würde: „Wenn ich eine Falschmeldung zum Maßstab für die Existenzberechtigung eines Mediums nehmen würde, dann müsste ich ja in derselben Logik fast alle Printmedien verbieten. Das wäre doch Maschinen-Stürmerei. Zumal: Man kann gegen konkrete Falschmeldungen konkret vorgehen, bei Wikipedia übrigens einfacher, als auf dem Zeitungs- oder TV-Markt.“

Wikipedia Deutschland spülte der Eklat allein am ersten Tag der Sperrung rund 16 000 Euro Spendengelder in die Kassen – so viel wie sonst gerade mal in einem Monat. Lutz Heilmann Ansehen allerdings ist seit Freitag einigermassen ramponiert.

Und für den Fall, dass demnächst wieder einmal jemand meint, wikipedia Deutschland sperren lassen zu müssen: über de.wikipedia.org sind auch deutsche Inhalte (voraussichtlich) weiterhin verfügbar. Denn da diese Seite über einen Server in den USA verwaltet wird, müsste schon eine Klage in den USA eingereicht werden, um deutsche Inhalte sperren zu lassen.




2008-11-17 ; von Angelika Blank (autor),

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