In den Medien wird seit einiger Zeit das „Ende der Willkommenskultur“ ausgerufen. Doch jenseits aller politischen Pokerspiele sorgen in der Republik hunderttausende ehrenamtliche HelferInnen unermüdlich dafür, dass Merkels „Wir schaffen das“ zur Realität werden kann – auch wenn die Belastung manchmal an die Kapazitätsgrenzen geht.
Am Anfang stand allein der gute Wille. Im Laufe der Monate ist für viele FlüchtlingshelferInnen die Unterstützung jedoch teilweise zur mehrstündigen Tagesarbeit geworden. Die wenigsten der zahlreichen HelferInnen – allein in Lüchow-Dannenberg sind es geschätzte 300 bis 400 Menschen – hatte sich im September vorstellen können, mit welcher Komplexität an Problemen sie konfrontiert sein würden.
Schnell stellte sich heraus, dass
neben der Beschaffung von Einrichtungsgegenständen, Kinderwagen und
-bedarf oder der Organisation von Kleidung eine umfangreiche
Alltagsbegleitung notwendig ist. Fehlende Sprachkenntnis macht die
Begleitung bei Arzt- und Behördengängen notwendig. Eingehende
Behördenbriefe, Formulare etc. müssen gelesen werden, der Kontakt
zu den jeweiligen Behörden hergestellt werden, jedes Schreiben erläutert, jede Regel erklärt werden. So wird fast jede/r
Helfer/in unbeabsichtigt zum Rechts-, Sozial- und Familienberater – und das in den meisten Fällen ohne entsprechende fachliche Qualifikation.
Ist es da eine gute oder eine schlechte
Nachricht, dass bei vielen der Einzelprobleme auch die zuständigen
SachbearbeiterInnen nicht weiterhelfen können? Beispiel Geburt:
befinden sich die Eltern des hier geborenen Babys noch im
Asylverfahren, so wird ihnen lediglich ein Ausweisdokument
ausgestellt, dass zwar im Alltag zur Identitätsfeststellung
ausreicht, aber nicht für die Ausstellung einer Geburtsurkunde.
Denn: eine Geburtsurkunde darf nur ausgestellt werden, wenn die
Eltern im Besitz eines Personalausweises oder eines Reisepasses sind.
Also bekommt das Kind vom Standesamt lediglich eine
Geburts“bescheinigung“. Mit anderen Worten: das in Deutschland
geborene Kind hat nach dem Gesetz keine endgültig festgestellte
Identität. Auch intensiver Einsatz von HelferInnen führt hier nicht zur Lösung des Problems.
Beinahe jeden Tag taucht ein neues Problem auf, für das es auch bei den Behörden noch keine Richtlinien gibt. Anerkennung von Dokumenten, Beschaffung von Originalen, Klärung von Vormundschaftsfragen, spezielle Krankheitsfragen und, und, und ... Die Liste der Themen ist lang. Und fast immer obliegt es
den jeweiligen Helfern, Telefonate zu führen, den Schriftverkehr zu organisieren oder die Gespräche mit den Behörden zu begleiten, um für die Flüchtlinge
die optimale Lösung des Problems zu erreichen.
Und immer wieder kommt den Flüchtlingen unweigerlich die Frage: „Warum ist das so?“ Warum bekommt mein
Nachbar, der nach mir eingereist ist, eine Aufenthaltsgenehmigung für
drei Jahre und ich nur für ein halbes Jahr? Warum kann ich nicht zu
meinen Verwandten reisen, die im Nachbar-Bundesland untergekommen
sind? Warum wird mein Führerschein nicht anerkannt, obwohl ich als
Tourist doch drei Monate lang damit in Deutschland herumfahren
dürfte? Usw. usw. … Wie die komplizierten Regelungen des
deutschen Rechts erklären? Oft verstehen selbst Einheimische offizielle Entscheidungen nicht. Also hilft oft nichts anderes, als offensichtliche Ungereimtheiten entschuldigen und immer wieder um Geduld zu werben.Kein Wunder, dass bei so manchem Flüchtling "Das ist Deutschland!" (gepaart mit einem Kopfschütteln) zum geflügelten Satz wird.
Krank? Nur das Notwendigste wird bezahlt
Sonderthema Krankheit: für die Flüchtlinge gelten die gleichen Spielregeln wie für einheimische Sozialhilfeempfänger: bezahlt wird nur die Grundversorgung. Was also tun, wenn eine aufwändigere Behandlung notwendig ist? Wo hört
die Grundversorgung auf? Also wieder beim Sozialamt nachhaken. Und
was ist, wenn das Sozialamt die Kostenübernahme ablehnt, die
Behandlung aber notwendig erscheint? Im Zweifelsfall kämpfen auch hier wieder die
HelferInnen dafür, dass ein notwendiger chirurgischer Eingriff oder
eine Facharztbehandlung finanziert wird.
Zudem müssen die Flüchtlinge zulassen, dass die HelferInnen Kenntnis über ihre intimsten Probleme bekommen. Beim Zahnarzt ist die Anwesenheit der HelferInnen noch am wenigsten erforderlich, aber bei Haus- und Facharzt muss der/die HelferIn das Arztgespräch begleiten, auch wenn es um intime Fragestellungen geht. Dieser Zustand fordert nicht nur von den Flüchtlingen sondern auch von den Helfern viel Vertrauen und Sensibilität.
Kilometer abreißen - das AlltagsgeschäftUnd erst die Fahrerei: jede Erledigung, jeder Einkauf, die Arzt- und Behördenbesuche, (fast) alles muss mit dem Auto erledigt werden. Eine Fahrt zur Ausländerbehörde? Je nach Wohnort bis zu 30 km einfache Wegstrecke. Eine Fahrt zum Arzt? Ebenso. Dazu kommen Fahrten zum Facharzt nach Lüneburg oder Uelzen.
Für eine dreiköpfige Familie ist die Fahrt mit dem Auto billiger als die Tickets für den Bus. Ganz abgesehen davon, dass es für die notwendigen Fahrten oft keine Verbindungen gibt. Also sind viele Helfer tagtäglich Stunden mit Flüchtlingen unterwegs.
Deutsches Essen? Nein danke
Auch beim Einkaufen müssen viele Flüchtlinge noch begleitet werden – nicht nur, weil sich das einzige Geschäft, welches heimische Lebensmittel führt, in Lüchow befindet, sondern auch, weil viele Waren in den Supermarktregalen entweder unbekannt sind oder die deutsche Aufschrift nicht entziffert werden kann.
Äpfel haben es schnell in die
Beliebtheitslisten geschafft, ebenso Gurken und Tomaten. Rote Bete,
Rosenkohl oder andere Kohlarten müssen sich dagegen mit den letzten
Hitlisten-Plätzen in Sachen Ernährung zufrieden geben, weil schlichtweg Geschmack und
Zubereitungsmethoden nicht bekannt sind. Also müssten eigentlich
Kochkurse für deutsche Lebensmittel angeboten werden. Doch dazu
fehlt es angesichts der vielfältigen anderen Probleme an
Energie. So erweitert sich die Palette der Nahrungsmittel nur
langsam. Deutsches Brot findet bislang ebenso wenig Interesse wie
Butter oder Marmelade. Dafür ist glatte Petersilie der Superhit - sie gehört zu jedem arabischen Essen wie bei uns Salz und Pfeffer.
Eine Entlastung gibt es erst dann, wenn die Flüchtlinge über genügend Sprachkenntnisse verfügen, um viele der Angelegenheiten selber klären zu können. Doch auch diesen Unterricht gilt es zu organisieren. Freiwillige Lehrer müssen gefunden werden, die Flüchtlinge – vor allem die Frauen – motiviert werden, auch regelmäßig am Unterricht teilzunehmen. Glücklicherweise gibt es inzwischen für den Sprachunterricht eine funktionierende Struktur, die es ermöglicht, dass Flüchtlinge auch in den kleineren Orten wie z.B. Gartow die deutsche Sprache erlernen können.
Clash der Kulturen
Die eigentlichen Probleme bestehen aber in der Auseinandersetzung zwischen den Kulturen. Obwohl sich die meisten HelferInnen frei von Ressentiments fühlen, kommt es doch immer wieder zu Missverständnissen und gegenseitigem Unverständnis. Da kommt zum Beispiel die gesamte Familie inklusive Kindern zu Besuch und muss tage-, manchmal wochenlang durchgefüttert werden. Für die HelferInnen ein absolutes No Go angesichts der sowieso schon knappen Mittel aus der Sozialhilfe. Für die Flüchtlingsfamilie jedoch ein absolutes Yes, weil ihre Kultur ihnen vorschreibt, Gäste großzügig zu bewirten. Jeglicher Versuch, mit den Verwandten darüber zu reden, wird im Keim erstickt. Das Thema soll bitte auf gar keinen Fall angesprochen werden, weil es als ultrapeinlich gilt, wenn der Gastgeber seinen Pflichten nicht nachkommt.
Dieser kulturelle „Zwang zum guten Gastgeber“ führt bei so manchem Helfer zur Überforderung. „Ich komme da nicht weg, deswegen gehe ich da jetzt nicht hin,“ ist inzwischen ein zwischen HelferInnen nicht unbekannter Satz. Denn es ist schier unmöglich, bei einer Flüchtlingsfamilie (zumindest aus dem arabischen Raum) zu klingeln, um „schnell etwas abzuklären“. Es gehört zur Kultur, jeden Gast herein zu bitten, zum Sitzen aufzufordern und irgend etwas anzubieten. Da fällt die Ablehnung schwer, kommt einer persönlichen Kränkung gleich. Es ist schwer zu vermitteln, dass es in Deutschland einen Unterschied gibt zwischen „schnell etwas klären“ und einer Einladung zum Kaffeetrinken. Da hilft zunächst nur eine – hoffentlich akzeptable – Ausrede.
Die Tücken des deutschen Seins
Dann das Problem der Heizung: da Erfahrungen mit dem Umgang mit Heizungen fehlen (und Miete sowie Nebenkosten direkt vom Sozialamt an die Vermieter gezahlt werden), sind Öl oder Gas nach kürzester Zeit aufgebraucht. Ein Problem, welches spätestens bei den jährlichen Abrechnungen bei so manchem Vermieter für böse Überraschungen sorgen wird. Wie dann damit umgehen? Den Flüchtlingen hunderte Euros Nachzahlungen aufbürden? Angesichts der knappen Sozialhilfeleistungen praktisch nicht durchführbar. Die Nachzahlungen über das Sozialamt ausgleichen? Ist gesellschaftspolitisch nicht vertretbar.
Also was tun? Wird das Problem nicht
gelöst und die Vermieter bleiben auf den Nachzahlungen sitzen, ist
abzusehen, dass so manche Flüchtlingswohnung wieder gekündigt wird
– und neue nicht mehr zur Verfügung gestellt werden. Unter dem
Strich wird nichts Anderes übrig bleiben, als die Nachzahlungen
zunächst aus öffentlichen Mitteln auszugleichen – und den
Flüchtlingen beizubringen, weniger Energie zu verbrauchen. Auch
diese Vermittlung wird wieder den ehrenamtlichen HelferInnen
überlassen bleiben.
Und wie steht es mit "Integration 2.0"? Wenn die Flüchtlinge genügend Deutsch sprechen, um an den sozialen Netzwerken teilnehmen zu können - und zu wollen. Sind wir wirklich bereit, sie in unsere Zusammenhänge aufzunehmen? Sie als Mitglied von Schützenverein, Feuerwehr- oder Landfrauenverein zu akzeptieren? Letztendlich geht es dann darum, vom "Sie-brauchen-Hilfe"-Denken auf den "Das-sind-jetzt-unsere-neuen-Nachbarn"-Status zu wechseln.
Um Missverständnisse zu vermeiden: es geht hier nicht darum, in den Chor der Pegida- und AfD-Jammerer einzusteigen, die die Überforderung des Landes herbeireden. Es darf wohl behauptet werden, dass das Zusammenleben von Flüchtlingen und Einheimischen hierzulande bestmöglich funktioniert. In den Geschäften werden Flüchtlinge freundlich begrüßt und im Bedarfsfall unterstützt, rechte Übergriffe sind bisher nicht bekannt geworden. Letzteres ist wohl auch der Tatsache zu verdanken, dass es eine klare und starke Allianz gibt, die ganz selbstverständlich die Botschaft nach außen trägt: „Hier haben Rassisten keinen Platz.“
Dennoch müssen Verwaltung und Politik
im Bewusstsein behalten, dass eine funktionierende
Flüchtlingsbetreuung - und letztendlich eine gelungene Integration - nur dann langfristig zu gewährleisten ist, wenn einerseits die Flüchtlinge den Willen dazu haben, aber parallel dazu den zahlreichen
HelferInnen alle Unterstützung gegeben wird, die den Gemeinden, dem Landkreis und letztendlich dem Land zur Verfügung stehen.
Nur so werden sie ihre Hilfe noch lange zur Verfügung stellen wollen - und können. Denn die Flüchtlinge, die jetzt im Landkreis leben, gehören zur ersten Runde. Wieviele von ihnen nach Anerkennung als Asylbewerber hier bleiben werden ist unklar. Neue Flüchtlinge werden kommen, die auf eine ähnlich intensive Hilfe hoffen, wie diejenigen, die sie jetzt schon monatelang genießen konnten.
Foto (Rebecca Harms): Flüchtlinge in Budapest zu Beginn des grossen Ansturms September 2015