Am 22. Februar 1977 platzte im verschlafenen Lüchow-Dannenberg die Bombe: "Gorleben wird zum Standort für ein integriertes nukleares Versorgungszentrum" verkündete der damalige Ministerpräsident Ernst Albrecht. Seitdem ist die abgelegene Region an der Elbe nicht mehr das, was sie vorher war.
An diesem Tag saß Lilo Wollny aus Vietze mit ihrem Mann nichtsahnend vor dem Fernseher.
“Als damals dieser... Albrecht strahlenden Gesichts auf dem Bildschirm erschien und verkündete, dass es Gorleben werden würde... wie das war? ...Ein richtiger Schock! Es war so, als wenn uns der Boden unter den Füßen weggerissen würde.“ Wenn sie über den Morgen der Standortbennung erzählt, blitzt Lilo Wollny heute noch die Wut aus den Augen. Bis zu diesem Tag war die spätere Bundestagsabgeordnete und langjährige Frontfrau der Bürgerinitiative Umweltschutz eine schlichte Hausfrau und Mutter von fünf Kindern. Seit 1945 war Vietze, keine sechs Kilometer Luftlinie von Gorleben entfernt gelegen, ihre Heimat.
Durch die bekannt gewordenen Planungen im ebenfalls nahen Langendorf womöglich ein Atomkraftwerk zu bauen, hatten sich in der Gegend allerdings schon Protestgruppen organisiert. So dauerte es nicht lange, bis es im Wendland zur ersten großen Demonstration kam. Lilo Wollny: „Mich verblüfft es noch heute, daß sich bereits am 15. März, also kaum drei Wochen nach der Standortbenennung, rund 20 000 Menschen auf dem abgebrannten Waldgelände nahe Trebel trafen, wo der Bau vorgesehen war.“
Ein Waldbrand, der so passend kam ...
Entstanden war die ca. 16 qkm große Brachfläche zwischen Gorleben und Trebel bei einem Großbrand im Jahre 1975. Niemand war vor der Standortbenennung auf die Idee gekommen, dass dieser Brand, eindeutig durch Brandstiftung verursacht, womöglich ein Hinweis auf eventuelle Großpläne einer Landesregierung sein könnte. Es dauerte Jahre, bis Umweltgruppen feststellten, dass zeitnah zu dem Brand bei Trebel mehrere andere große Waldflächen abgebrannt waren – allesamt offensichtlich durch Brandstiftung verursacht. Seltsamerweise ereigneten sich die Waldbrände alle auf Flächen, die als Standorte für mögliche Atomkraftwerke bzw. das nukleare Entsorgungszentrum im Gespräch waren. Aber bis heute blieb es im Dunkeln, wer und in wessen Auftrag die Brände gelegt hat.
Für die Baupläne in Gorleben war es jedenfalls extrem günstig, dass die Waldflächen abgebrannt waren. So konnten die Waldeigentümer einfacher zum Verkauf bewegt werden.
Abgesehen von dieser Tatsache waren es wohl für die niedersächsische Landesregierung hauptsächlich strukturpolitische Gründe, weshalb sie das nukleare Entsorgungszentrum unbedingt in Niedersachsen haben wollten. Ministerpräsident Albrecht soll noch im Jahr der Standortbenennung die Bundesregierung gebeten haben, keine Standort-Entscheidung in anderen Bundesländern zu treffen, solange er nicht einen Standort in Niedersachsen benannt habe. Dicht an der DDR-Grenze gelegen, wirtschaftlich weit abgehängt und extrem dünn besiedelt, schien ihm Lüchow-Dannenberg der am einfachsten zu überzeugende Landkreis zu sein, dem man dieses politisch so umstrittene Projekt aufbürden konnte. Böse Zungen behaupten sogar, dass der häufig wehende Nordwest-Wind ein nicht unwesentlicher Faktor bei der Standortentscheidung war. Würde doch im Falle eines Unfalls die meiste Strahlung Richtung Osten verweht.
Außerdem erwartete man von diesem völlig unbekannten Landkreis, dessen Kommunalpolitik seit Jahrzehnten konservativ dominiert war, wenig Widerstand. Und um ganz sicher zu gehen, winkte man dem armen Landstrich mit millionenschweren Ausgleichszahlungen. So manch ein Grundstückseigentümer rund um Gorleben hat sich damals sein eigentlich wertloses Land für teures Geld abkaufen lassen. Andere wiederum, wie Graf Andreas von Bernstorff, dem rund um Gartow ausgedehnte Waldflächen gehören, verweigert sich bis heute, zentrale Bereiche des Gorlebener Waldes an die Betreibergesellschaft zu verkaufen.
Und der Widerstand hört nicht auf ...
In puncto Widerstand hatten sich die Planer der Atommüllentsorgung allerdingsgründlich geirrt! Bis heute kämpfen Einwohner und Freunde der Wendländer beharrlich und mit nicht nachlassendem Elan gegen die Atomanlagen.
„Gorleben“ wurde in kürzester Zeit zum Symbol für eine nicht zu Ende gedachte Atompolitik. Tausende machten sich auf, die Proteste im Wendland zu unterstützen. Beim legendären "Treck nach Hannover" 1979 waren es nach einer Woche Fahrt vom Wendland nach Hannover letztlich 100 000 Menschen, die in Hannover protestierten. Bis heute erinnert ein Gedenkstein an diesen kilometer langen Zug aus Traktoren, Radfahrern und vielen, vielen Demonstranten. Was sich hinter den Kulissen der Landespolitik abgespielt hat, wissen nur die Eingeweihten, aber kurz darauf verkündete Ministerpräsident Albrecht, dass ein nukleares Entsorgungszentrum in Gorleben "politisch nicht durchsetzbar" sei. Der erste große Erfolg des Widerstands.
Und auch der Ausstiegsbeschluß der rot-grünen Regierung im Jahre 2000, ist unbestritten eine Folge der immer wieder öffentlich diskutierten Risken und Gefahren der Nutzung der Atomenergie – wobei der heftige alljährliche Widerstand im Wendland anlässlich der Castortransporte eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben dürfte. Trotzdem brauchte Deutschland nach Schweden (1980), Italien (1987) oder Belgien (1999) noch bis zum Jahre 2000, bevor auch hier der Atomausstieg beschlossen wurde.
Man kann wohl behaupten, dass der nicht nachlassende Widerstand im Wendland auch im Berliner Politgeschehen seine Wirkungen zeigte, letztendlich die energiepolitische Ausrichtung der Bundesrepublik beeinflusste. Die schärfsten Verfechter der Atom-Ausstiegspolitik kommen bis heute aus dem Wendland oder fühlen sich ihm sehr verbunden. Mit Rebecca Harms und Undine v. Blottnitz schaffte es der wendländische Widerstand sogar bis ins Europäische Parlament. Lilo Wollny, die ehemalige "Hinterwäldlerin", wie sie sich scherzhaft manchmal nennt, saß für die Grünen im Bundestag. Und auch für bundesweit bekannte Politiker wie Jürgen Trittin, Renate Künast, Joschka Fischer oder Claudia Roth war das „Gorleben-Thema“ immer ein Prüfstein ihrer Politik. Selbst Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder nahm 1980 als Juso-Vorsitzender zeitweise an der Hüttendorf-Besetzung auf „1004“ teil.
Und was passiert, wenn Gorleben als atomares Endlager – womöglich sogar als „europäisches“ Endlager festgeschrieben würde?
Nicht nur Lilo Wollny ist fest davon überzeugt, dass der Widerstand dann noch einmal richtig „Schwung bekommen wird“. „Dann gibt es hier Aufruhr“, so ihre Einschätzung. Denn auch nach über 30 Jahren sind die Wendländer nicht bereit, sich zum „Atomklo der Nation“ machen zu lassen.
text: Angelika Blank
photo: Seit über 30 Jahren ist das X Symbol für den wendländischen Widerstand, hier eine Greenpeace-Aktion aus dem Jahre 2001/Timo Vogt, randbild
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