Vor vierzig Jahren war „Achtundsechzig“. Helmut Koch war zwanzig und beendete gerade seine Lehre als Schriftsetzer bei Axel Springer. Nur zwei Stunden nach dem letzten bestandenen Prüfungsteil mußte er gegen den Erhalt einiger Monatslöhne seinen Ausbildungsplatz vorzeitig verlassen – seine Bosse hatten erkannt, daß dieses langhaarige Subjekt in Ami-Kutte, mit bedeutungsvoll rotem Schal um den Hals und „Enteignet Springer!“-Button an der Jacke „sich nicht mit den Produkten des Hauses („Bild“ und „BZ“) identifiziert“. Sie hatten recht.
68 – diese Zahl wird gern als Synonym für eine gesellschaftliche Veränderung der Bundesrepublik Deutschland genommen. Aber es war weder ein speziell deutsches Ereignis, noch fand das alles nur 1968 statt – auch wenn in diesem Jahr tatsächlich viel Symbolträchtiges geschah: Rudi Dutschke wurde von einem, der die Hetzreden von Springer-Presse und Politikern in die Tat umsetzte, auf offener Straße über den Haufen geschossen; die Mehrwertsteuer wurde eingeführt. Der Prozeß indes hatte schon früher begonnen, und er war keineswegs auf die Universitäten beschränkt.
Die erste „Große Koalition“ und die „Notstandsgesetze“, die ökonomische Krise 1966 und 1967, an der letztendlich auch die CDU in der Regierung scheiterte – das alles bildete den Nährboden für eine Unzufriedenheit, die durch alle Schichten ging. Denn parallel zu den „Studentenunruhen“ gab es Schülerproteste. Und auch die Auszubildenden, die damals noch „Lehrlinge“ hießen, wollten nicht länger nur als Kaffee-Kocher, Brötchen-Holer und billige Hilfsarbeiter benutzt werden.
Die Doppelmoral und Verlogenheit in vielen Familien (Papa war an der Ostfront gewesen, und mit Hitler hatten wir nichts zu tun, wir wußten von nichts, und Juden hatten wir auch keine gekannt) aktivierten das natürliche Protestpotential der Selbstfindung Jugendlicher beim Erwachsenwerden. Wohl deswegen war es auch eine zutiefst antiautoritäre Bewegung – auch wenn es zunächst das universitäre Umfeld war, das dieser Bewegung das Vokabular vorgab und die Häuptlinge durchaus autoritäre Machos waren (aber das merkte man erst später).
Auch hatte die Bewegung Wurzeln und Vorläufer, die nun gar nichts mit dem Soziologiepolitologenchinesisch der Universitäten zu tun hatten: die Rocker und „Halbstarken“ der fünfziger und frühen sechziger Jahre, die politische (teils altkommunistische) Bewegung gegen die deutsche Wiederbewaffnung, die erste „Anti-Atom-Bewegung“, die gegen die Atomwaffen, hatten Spuren hinterlassen, die zum Pfad für die 68er wurden.
Die ganz wichtigen politischen Ereignisse fanden jedoch gar nicht in Deutschland statt. Vor allem in Frankreich war das gesellschaftliche Gewitter schon bald keine „Studentenunruhe“ mehr. Da solidarisierten sich revolutionäre Studenten mit Arbeitern und umgekehrt – bis Präsident De Gaulle und die französische Regierung am Abgrund standen. Während der Pariser Maiunruhen standen hinter jedem „Flic“ ein „Gendarm National“ – und dahinter ein Fremdenlegionär mit entsicherter Waffe.
Gleichzeitig überrannte der Vietcong Amerikaner und Südvietnamesen mit seiner Tet-Offensive, während die Russen den „Prager Frühling“ mit Panzern überrollten und Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden. Was bis heute vor allem nachwirkt, ist die „Kulturrevolution“ von damals. Schluß sollte sein! Nicht nur mit dem Muff unter den Talaren, auch mit dem Obrigkeitsstaat, Schluß mit dem Duckmäusertum, der staatstragenden Verlogen- und Verklemmtheit, Schluß auch mit dem Verschweigen der Nazi-Vergangenheit (der damalige Bundeskanzler, Kurt-Georg Kiesinger, war von 1933 bis 1945 NSDAP-Mitglied), statt dessen schonungslose Ehrlichkeit, sexuelle Befreiung und Selbstbestimmung; sogar kleine Kinder sollten selbst bestimmen, was sie zu tun oder zu lassen hatten (Kinderladen-Witz von damals: „Scheiße, wir sollen schon wieder machen, was wir wollen!“
Diese mitreißende Aufbruchstimmung fand besonders in der Musik ihren Ausdruck. Keine Zeit danach hat uns mehr Gewagtes, Berührendes, Revolutionäres in die Ohren gespült. Doch auch, was die Musik betrifft, gilt: Es gab nicht nur Jimi Hendrix; es gab auch Joan Baez, nicht nur die „Doors“, sondern auch Esther und Abi Ofarim.
Je nach Weltanschauung sind „die 68er“ und die APO (Außerparlamentarische Opposition) schuld an allem, was sich in der Folge zum Schlechten oder zum Guten verändert hat – viel zu viel Verantwortung für ein paar Studenten, Wissenschaftler und Boulevard-Presse-Zielscheiben. Denn wenn da eine Revolution war, dann hat sie das Fußvolk gemacht. Und da genau liegt das Interesse von zero.
Unendlich viel ist über 68 geschrieben worden. Über die Prominenten, die Clowns, die Groupies, die Karrieristen, die Wissenschaftler, die Rädelsführer – also fast nur über die Häuptlinge. Was aber wissen wir noch von ihren Stämmen? Wie war das damals? Was haben die LeserInnen von zero zwischen 1965 und 1970 erlebt? Wie sah die ganz persönliche APO aus? Gibt es Fotos? Wer berichtet, was ihn damals bewegte, wo man selbst gerade war?
Erinnern wir uns! Damals war eine WG eine Revolution, weil für den Normalbürger der Untergang des Abendlands. Vermieter wurden über den Kuppelei-Paragraphen mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus bedroht, wenn sie an unverheiratete Paare vermieteten. Volljährig wurde man mit 21, zur Bundeswehr und das Handwerk des Tötens lernen durfte man durchaus schon vorher.
Ob unsere LeserInnen ihre Fotoalben öffnen oder ein paar Geschichten aufschreiben? Mal sehen, was draus wird – eine kleine Serie, ein Extraheft oder auch gar nichts.
Wer was hat, bitte schicken an:
Redaktion zero
Am Anger 9
29487 Luckau
oder per Email:
an webmaster ]at[ wendland punkt de
Foto: Aus einem Möbelkatalog der 60er Jahre; mit freundlicher Genehmigung von Burghard Kulow vordem.de
{{tpl:inlineLB2 |ID=66ERPAKZH3 }}