Das Ganze könnte – statt in England – prima auch im Wendland spielen: eine Hippie-Landkommune in den frühen Siebzigern. Jonathan, feinsinniger Sohn aus reichem Hause, und die attraktive Sarah sind ein Paar. Aber auf Ewan, den handfesten Bergarbeitersohn, steht Sarah, die die „freie Liebe“ lebt, viel mehr. Jonathan selbst geht’s genauso, auch er ist heillos in Ewan verliebt. Die anderen acht schrägen Typen und Typinnen der Kommune mischen eifrig mit – bei allem und auf jeder Ebene.
Aus diesem Kuddelmuddel heraus gebiert Sarah einen Sohn, der sechs bis acht mutmaßliche Väter hat und nach den Lebensumständen benannt wird, er heißt Chaos.
Inhaltlich wie stilistisch ist das, was Claire Dowie schreibt, ungewöhnlich, atemlos und unverblümt – mir manchmal ein wenig zu gehetzt und zu kraftstrotzend; aber so waren halt die Zeiten damals. „Bei ihr muß man lachen, während sie einem die Zähne ausschlägt“, schrieb „The Guardian“ über die Frau, die wie ein Kerl aussieht. Und das Buch beginnt auch so: Gleich auf der ersten Seite stirbt Chaos, der Held.
„Chaos“ zeigt auf einfühlsam drastische, oftmals zum Brüllen und Heulen komische, teils sarkastische Weise, aber immer wahrhaftig und nie verächtlich die beiden vermutlichen Hauptantriebsfedern der alternativen Landkommunen: Die Sehnsucht nach dem Paradies und die panische Angst davor, teilweise auch „normal“ zu sein, bei bürgerlichen Wünschen ertappt zu werden und auch mal einfach nur mit Büchse Bier und Sportschau glücklich sein zu wollen.
Leseprobe: „Es sah nach einem perfekten Tag aus. Die Sonne löste den Morgennebel auf, der Himmel war blau, und kein Windchen wehte. Ewan stand mit Weizenkörnern in der Hand auf dem Feld und fragte sich, ob er sie aussäen sollte. Neben ihm spielten die Kinder im Dreck, auch sie Teil des perfekten Bildes, was es ihm noch schwerer machte. Ewan haßte Morgen wie diese, haßte perfekte Tage. Perfekte Tage zeigten einem nur, wie es hätte sein können, jedoch nie ganz war.“
Eines der besten Bücher für besonders die Jüngeren, die erfahren wollen, wie sich 68, Hippiezeit, alternatives Landleben und die Subkulturen der letzten 30 Jahre wirklich anfühlten, und für solch Ältere, die bereit sind, sich schonungslos auch an Peinliches und die leibhaftigen Folgen ihres Handelns erinnern zu lassen. Erschienen im kleinen feinen Merlin-Verlag, deutsch von Michael Raab.