Thema: erziehung

Der Angriff der Horrorkröten

Es war einmal; da kamen Kinder zur dunklen Jahreszeit mit Laternen an die Türen, sangen ein Lied und baten um eine süße Gabe. Heute verkleiden sie sich zu Monstern, prügeln gegen die Tür und brüllen: „Süßes! Sonst gibt’s Saures!“ Wäre das nur zu Halloween so, es könnte für lustig durchgehen. Aber Halloween ist überall und immerzu: „Hände hoch! Oder ich schreie!“

Da reden Fünftklässler in der Fußballumkleidekabine nach links blickend mit ihrem Freund, während sie nach rechts den Fuß heben, um Vater oder Mutter zu ermöglichen, ihrem Goldjungen die Schuhe anzuziehen und zuzubinden. Wird diesem gestischen Befehl nicht umgehend Folge geleistet, so rüttelt der süße Fratz, während er weiter nach links mit seinem Freund spricht, heftig und ungehalten mit dem Fuß. Spätestens jetzt fällt mindestens eines der Elternteile auf die Knie und führt den Befehl aus. Sein Freund, aufgefordert, seine halbleere Zitronenteepackung – wenn er sie denn schon wegschmeißen muß – doch bitte in den Müllkorb statt mitten in die Kabine zu werfen: „Wieso soll ich das machen? Wir zahlen doch Beitrag!“ Wieder ein anderer kommt gar nicht erst zum Spiel, weil er heute keine Lust hat. Darauf angesprochen, daß er damit seine Mannschaft verrät und im Stich läßt, klagt der Vater, halb empört, halb hilflos: „Ich kann ihn doch nicht zwingen.“

Ich finde: Doch, das kann er! Aber damit, so scheint es, stehe ich mehr und mehr allein da. „Kinder an die Macht!“, grölt Herbert Grönemeyer – und weiß nicht, welchen Blödsinn er da knödelt. Zum einen ist diese Forderung nicht mehr nötig; Kinder haben in einem Großteil der Familien längst die Regierungsgeschäfte übernommen. Sie haben ihre Eltern zu Bediensteten, zu Chauffeuren, zu ganzjährig arbeitenden Weihnachtsmännern und ehrenamtlichen Hoteliers degradiert. Da sind die Eltern selbst dran schuld. Aber für Kinder gibt es kaum etwas Schlimmeres als die Möglichkeit, Macht über ihre Eltern auszuüben.

Wobei das bitte nicht mißzuverstehen ist: natürlich gehört es zu den vornehmsten Aufgaben eines Kindes, mit allen Tricks und nach allen Regeln der Kunst zu versuchen, Vater und Mutter aufs Kreuz zu legen, ihre Grenzen auszutesten und die Macht an sich zu reißen. Aber die ebenso vornehme Aufgabe der Eltern ist es, dies zu verhindern, die Grenzen zu wahren und zu halten. Kinder, die die Macht haben, die ihre Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern und Lehrer stets und ständig um den Finger wickeln, sind nicht nur unausstehliche Horrorkröten, es sind unglückliche Kinder, überforderte Kinder, enttäuschte Kinder – zurecht enttäuscht von Eltern, Tanten, Onkeln, Großeltern und Lehrern.

Über Eltern – zumindest über solchen, die bestrebt sind, ihre Sache gut zu machen – hängt ein Schwert, gegen das das des Damokles eher niedlich abschneidet. Denn der Stahl, aus dem dieses Schwert geschmiedet ist, ist der unausgesprochene moralische Anspruch, die Welt habe gefälligst ein Paradies für Kinder zu sein. Die vielleicht schlimmste Variante dieses falsch verstandenen Paradieses ist die hier bei uns so ausgeprägt vorhandene alternative. Da werden selbstgestrickte Säuglinge – denn Kinder gehen schließlich stets und überall vor, und jeder hat gefälligst Kinder zu lieben – auch in Kinos und zu Lesungen mitgenommen, wo sie mit Vorliebe die sensibelsten Stellen in Grund und Boden schreien. Wer sich dagegen zur Wehr setzt oder zu bedenken gibt, daß sich nicht einmal die Kinder selbst hier wohlfühlen, ist sogleich ein Kinderhasser. Hier wird gern Freiheit mit Verwahrlosung verwechselt. Ich kenne ein Dutzend Mütter mit Alleinerziehungsanspruch, die so sozial engagiert überall unterwegs sind, daß sie keine Zeit mehr für ihre achtjährigen Söhne haben, die dann zwei Drittel des Tages mit Familienpackung Chips und Zwei-Liter-Flasche Cola durch die Stadt marodieren.

Dieses Paradies, das sich bei näherem Hinsehen bestenfalls als Schlaraffenland entpuppt, hat natürlich einen Hintergrund und ist – wie jede Katastrophe – eigentlich gut gemeint. Das fing ja alles mal als Befreiung an, Befreiung von tatsächlicher Unterdrückung. Zu meiner Kinderzeit lautete der allgemeine Leitsatz von Erziehung: „Kinder mit ‘nem Willen kriegen auf die Brillen!“ Wer aufmuckte oder ein bißchen mehr als das wollte, was es gab, wer sich zu Hause darüber beschwerte, daß ihn ein Lehrer brutal behandelt hatte, der kriegte von Vatern gleich noch eine getafelt. Vor diesem Hintergrund wird sogar die Erfindung eines so haarsträubenden Schwachsinns wie die „antiautoritäre Erziehung“ (Kinderladen-Spruch: „Scheiße, wir müssen schon wieder machen, was wir wollen!“) nachvollziehbar.

Aber der gute und verständliche Ansatz, daß Kinder mehr Raum und Gehör bekommen, ist längst ins Gegenteil umgekippt – und das Gegenteil ist stets nichts Neues, sondern nur der Zwilling des Alten. Die Unterdrückung von Kindern ist in gesellschaftliche Verheiligung der Kindheit umgeschlagen. Kinder sind Engel!

Wer heute Kindern einmal etwas nicht erlaubt, wer etwas von ihnen fordert und ihnen die Lust näherbringen will, die darin besteht, sich etwas, das man noch nicht kann, auch einmal zu erarbeiten, der kriegt einen Köcher voll Vorwürfe um die Ohren geschossen. Dazu paßt auch die galoppierende Unart, bei Theateraufführungen an Schulen alles und jedes, was Schüler da teilweise verzapfen, mit minutenlangen stehenden Ovationen zu überschütten. Natürlich sollte man – etwa bei einem Grundschüler – auch einem mißglückten Auftritt Achtung zollen, aber ihn genauso zu bejubeln wie eine wirklich gelungene Vorstellung, ist eine ungehörige Abwertung dem gegenüber, der einen richtig guten Auftritt hingelegt hat. Das Phänomen erlebe ich auch als Fußballtrainer. Wie oft konstruieren Eltern einen Gegensatz zwischen Lust und Leistung! „Es soll doch Spaß machen!“, heißt es vorwurfsvoll, sobald mal etwas von ihrem Sohn verlangt wird. Fragten sie ihre Jungs, würden die ihnen sagen, daß reine Leistungsabforderei tatsächlich keinen Spaß macht – aber ewiges Dilettieren ebensowenig. Auf Dauer ist diese stadl-artig schunkelnde „Wir wollen doch alle immer nur Spaß“-Mentalität ohnehin nur mit Rauschmitteln zu verwirklichen.

Die Werbewirtschaft, die vielleicht mächtigste Industriebranche aller Zeiten, feuert aus allen Rohren ins Zentrum dieser lukrativen Wunde der „Spaß-Gesellschaft“: „Du willst es? Du kriegst es!“ „Hol’s Dir! Das neue Foto-Handy, die neueste Playstation XXL, den MP17-Player, das geilste Notebook.“ Die Werbung gaukelt vor, man könnte an der preußischen Wahrheit „Will was, muß was“ dauerhaft vorbeileben, man könnte ständig ernten, ohne irgendwann auch mal etwas zu säen. Und unsere Politiker, unsere Manager und Meinungsführer, sie alle gießen Tankladungen voll Öl in dieses verheerende Feuer.

Eltern, die nicht mit dem Klammerbeutel gepudert sind, wissen aus Erfahrung, daß bei der Erziehung nicht das zählt, was gesagt, was in Form von Lehrsätzen hehr verkündet wird; es kommt das unten raus, was gelebt wird – im Guten wie im Schlechten. Es nutzt nichts, wenn ein rauchender Vater seiner Tochter erzählt, daß er aus langjähriger Erfahrung weiß, wie schädlich das Rauchen ist. Und auch eine Mutter, die den Kindern das Fernsehen verbietet, aber sich schon tagsüber mit RTL-Gerichtssendungen betäubt, wird mit ihrem Verbot nicht landen. Kinder lernen, indem sie nachmachen, imitieren, sie tun das, was ganz augenscheinlich angesagt ist. Das war schon immer so und gilt in der Familie genauso wie auf gesellschaftlicher Ebene.

Deshalb gehören unsere Politiker, wenn schon nicht eingesperrt, dann wenigstens auf der Stelle ihrer Ämter enthoben. Denn wie soll ich als Vater oder Mutter meinen Kindern beibringen, daß Selbstverantwortung wichtig ist, daß man für das, was man will, auch etwas tun muß, und dass es Gerechtigkeit gibt, wenn unsere Politik derzeit durch ihr Tun das gerade Gegenteil predigt: Was Du nicht hast, pump’s Dir eben, egal, wie hoch Du bereits verschuldet bist. Und wenn Banken das Geld ihrer Schutzbefohlenen ohne Not verzocken, wird einmal kurz („Dududu!“) mit dem Zeigefinger gewedelt und danach massenweise zinsgünstiges, wenn auch wiederum gepumptes Geld wieder reingepumpt.
Ist es da ein Wunder, wenn Kinder – die Politik, die Wirtschaft und die Werbung imitierend – glauben, daß es in dieser Welt nur darauf ankommt, soviel wie möglich abzuzocken und so wenig wie möglich dafür zu tun? Das, was unsere Manager und Politiker derzeit veranstalten, produziert Horrorkröten, mit denen man – solange sie Kinder sind – tiefes Mitleid haben muß. Werden sie größer, kann man sich nur in acht nehmen vor ihnen.

Um das Problem anschaulich zu machen: Eine frühe Form der Horrorkröte ist gerade Bundeswirtschaftsminister geworden. Und der ist, nimmt man ihm die Brille ab, Lothar Matthäus nicht zufällig wie aus dem Gesicht geschnitten. Und sein Bruder im Geiste ist FDP-Vorsitzender. Es ist der Typus Mensch, dem Tiefe fehlt, dem eine geölte Frisur und vom Leben abstrahierender Erfolg wichtiger sind als ein ehrlicher Blick, der aber sehr wohl in der Lage ist, genau das darzustellen, wenn’s denn nötig ist.

Und auch, wenn ich hier am Ende bin – das ist erst der Anfang.

Foto: ZERO




2009-02-26 ; von Karl-Heinz Farni (autor),

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