Sein neues Buch „Die Belasteten“, das sich mit der Tötung so genannten „unwerten Lebens“ zur Zeit des Hitler-Terrors befasst, stellt der bekannte Autor und Historiker Götz Aly am Freitag, dem 22. November, in Hitzacker vor: um 19 Uhr in der „Alten Sargtischlerei“ nahe der Johanniskirche.
Götz Aly beschreibt, wie die Euthanasiemorde in der Mitte der deutschen Gesellschaft als öffentlich bekanntes Geheimnis von statten gingen.Er lässt die Opfer sprechen, zeigt, wie sich die Anverwandten verhielten und wie Ärzte das Töten in den therapeutischen Alltag übernahmen und zugleich reformerische Ziele verfolgten.
Aly gehört seit langem zu den bekanntesten und meistgelesenen deutschen Historikern und Autoren, die sich mit dem Dritten Reich, der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und der Geschichte des Holocausts beschäftigen. Sein neuestes Buch widmet sich einem Kapitel der Nazi-Herrschaft, das im öffentlichen Bewusstsein weniger präsent ist als der millionenfache Judenmord. Es untersucht die Tötung von etwa 200.000 körperlich und geistig Behinderten zwischen 1939 und 1945, die von den Tätern seinerzeit mit beschönigenden Begriffen wie „Euthanasie“ oder „Gnadentod“ umschrieben wurde.
Der Autor untersucht die Euthanasie-Morde aus verschiedenen Perspektiven. Er nimmt die Täter und die Opfer ebenso in den Blick wie die Angehörigen der Opfer, deren stillschweigendes Einverständnis die Morde erst möglich machte. Gerade dies ist einer der Kernpunkte der Darstellung: Aly sieht die überwältigende Mehrheit der Angehörigen in einer Komplizenrolle. Der - bewusste oder unbewusste - Wunsch der Angehörigen, von einem lästigen Familienmitglied befreit zu werden, spielte den Tätern in die Hände. Angehörige, die ihre behinderten Familienmitglieder vor „Abtransport“ und „Verlegung“ retteten, waren eine Ausnahme. Protest und Widerstand gegen die Euthanasie formierten sich nicht. Die Auffassung, Behinderte seien unnütze Esser und unproduktive Mitglieder der Gesellschaft, war unabhängig von der Nazi-Ideologie weit verbreitet. Daran konnten die Täter der Euthanasie-Maßnahmen (Beamte, Ärzte, Personal in Pflegeanstalten) problemlos anknüpfen.Den Morden lag das Motiv zugrunde, die Volksgemeinschaft von unbrauchbaren und daher „nutzlosen“ Mitgliedern zu befreien und die Gesundheit des Volkskörpers durch Ausmerzung alles Kranken und Schwachen zu fördern. Hunderte von Funktionären, Amtsträgern und Medizinern wirkten bereitwillig an den Euthanasie-Morden mit, ermutigt durch das Stillhalten der Angehörigen, die nicht so genau wissen wollten, was mit ihren behinderten Familienmitgliedern geschah. Etliche Mediziner nutzten die Leichen der Ermordeten für wissenschaftliche Forschungen; viele Ärzte konnten nach 1945 ihre Karrieren ohne Bruch fortsetzen. Ein Funktionär forderte, eine „Absterbeordnung für Idioten“ auszuarbeiten, um die Tötung von Behinderten, die auch nach dem siegreichen Krieg fortgeführt werden sollte, ein für allemal auf eine „ordentliche“ bürokratische Grundlage zu stellen. Der kalte bürokratische Tonfall, in dem die Täter über ihr Vorgehen sprachen und schrieben, ist beinahe noch erschütternder als die von Aly angeführten Selbstzeugnisse (Briefe, gerichtliche Zeugenaussagen) von Euthanasie-Opfern und Überlebenden.
Das Buch ist wertvoll, nicht nur deshalb, weil es den Opfern Ehre erweist, sondern auch, weil es gerade in der Gegenwart immer wieder Anzeichen einer erschreckenden Geschichtsvergessenheit gibt pm /Irulan Corrino / Foto: Fischer-Verlag, Susanne Schleyer