Thema: castor2010

92 Stunden gelebte Demokratie

Der Dienstag Morgen im Zwischenlager in Gorleben angekommene Atommülltransport hat alle bisherigen Rekorde gebrochen. Rund 92 Stunden hatte die Fahrt von der Wiederaufarbeitungsanlage im französischen La Hague nach Gorleben gedauert – und damit rund 24 Stunden länger als jeder Transport zuvor. Ein Resümee von Anna Carmienke.

Zehntausende hatten sich an den Protesten im Wendland beteiligt. Bürgerinnen und Bürger jeden Alters, aller sozialen Schichten aus Deutschland und dem Ausland. Diesem Aufgebot an Demonstranten stand eine unterbesetzte und angesichts der Situation überfordert wirkende Polizei gegenüber. „Seit etwa 40 Stunden bin ich auf den Beinen“, berichtete ein Polizist am Sonntagabend in Harlingen. Bereits in Göttingen habe er den Atommülltransport mit seiner Einheit begleitet und sei dann weiter nach Lüchow-Dannenberg gefahren – mit der Aussicht auf ein paar Stunden Schlaf in der Polizeiunterkunft. Auf dem Weg dorthin hätten die Beamten jedoch den Befehl bekommen, direkt nach Harlingen zu fahren, um ihre Kollegen zu unterstützen. So fanden sich die übernächtigten Polizisten statt im Bett bei Minustemperaturen in der Kälte wieder. Ablöse? Ungewiss.

Rund 17000 Polizisten waren im Castoreinsatz. Oft war es nicht leicht für sie, ihre Einsatzorte zu erreichen, denn die Bäuerliche Notgemeinschaft hatte fünf Verkehrsknotenpunkte, unter anderem den Streetzer Kreisel, mit Traktoren besetzt. Erst als zwei Hundertschaften mit massivem Einsatz drohten, gaben sie am Montagmorgen den Weg wieder frei.

Angesichts einiger gewaltbereiter Demonstranten in Leitstade müssen die Nerven der Polizisten blank gelegen haben. Schlagstöcke und Pfefferspray kamen zum Einsatz. Abgesehen von dieser autonomen Gruppe verliefen die Proteste an und auf den Gleisen sowie der Straße jedoch friedlich ab.

Im Laufe des Sonntags erreichten etwa 5000 Demonstranten die Gleise bei Harlingen und richteten sich an kleinen Lagerfeuern mit Getränken, Essen und Decken häuslich ein. Für Stimmung sorgten Trommler, Bläser und ein Musikwagen, bevor die Polizei sie in der Nacht zum Montag räumte und in der GeSa unter freien Himmel unterbrachte. „Mich beruhigt, dass so viele Menschen friedlich zeigen, dass die Politik mit Gorleben nicht durchkommt“, kommentierte Martin Donat der Kreistagspolitiker der GLW und Vorsitzende des Atomausschuss Lüchow-Dannenberg und bezeichnete die Anwesenheit von Wasserwerfern und Hundestaffeln vor Ort als unverhältnismäßig.

„Der politische Konflikt über die Atomenergie darf nicht auf dem Rücken der Bürger ausgetragen werden“, betonte Rebbecca Harms, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament und ergänzte, dass sich Politiker wie Bundesumweltminister Norbert Röttgen nicht zum „Büttel der Atomindustrie“ machen lassen sollten. Im Vergleich zum Castortransport 2008 habe sich die Anzahl der Protestierenden im Wendland verdreifacht, zudem stünden nun auch Kirchen, Gewerkschaften und andere gesellschaftlich relevante Gruppen ausdrücklich hinter den Protesten.

„Zur Masse zu werden ist leider offenbar die einzige Möglichkeit, um von den Politikern wahrgenommen zu werden“, sagte die 21-jährige Merle Schulenburg aus Klein Witzeetze, die sich der Sitzblockade vor dem Zwischenlager am Sonntag angeschlossen hatte. „Solange es kein sicheres Endlager gibt, ist es unverantwortlich, weiterhin Atommüll zu produzieren, schon der Abbau von Uran ist äußerst problematisch und vergifte Menschen und Umwelt“, ergänzten andere Blockadeteilnehmer.

Zudem ist „Gorleben als Endlager aufgrund des zu dünnen, Wasser führenden Deckengebirges und der Gasvorkommen ungeeignet“, sagte die 67-jährige Helena Kritzokat, die sich an den Blockaden in Harlingen und Gorleben beteiligt hatte. Man dürfe nicht auf einer vor 30 Jahren offensichtlich aus politischen Gründen getroffenen Entscheidung festhalten, wenn sie sich als falsch erweise. Egal wie viel diese den Staat bisher gekostet habe. „Wer kann vorhersehen, was in 500 Jahren ist? Und das Zeug strahlt viel länger. „Wir fordern eine sorgfältige und möglichst sichere Standortwahl.“

Die meisten Demonstranten wirken gut informiert.

Schon bei der Auftaktkundgebung am Sonnabend in Splietau bei Dannenberg zeichnete sich ab, dass die Anti-Atomkraftbewegung neuen Aufwind bekommen hat. Angesichts der Zwischenfälle in den Atommülllagern Morsleben und Asse, der von der Bundesregierung beschlossenen Laufzeitverlängerung der alternden Atomkraftwerke, trotz ungeklärter Endlagerung sowie die fragwürdige Eignung des Gorlebener Salzstockes seien mehr als Grund genug ein Zeichen zu setzen, hieß es dort.

Etwa 50.000 Menschen hatten sich bereits am Sonnabend versammelt, um ihrem Unmut gegen die aktuelle Atompolitik auf friedliche Weise Luft zu machen. Und das war erst der Anfang.

Als besonders effektiv erwiesen sich zwei Blockaden mit Überraschungsmoment: Ausgerechnet Gorleben war es vier Mitgliedern der Bäuerlichen Notgemeinschaft gelungen, sich auf der Transportstrecke an einer Betonpyramide festzuketten. Die Polizisten vor Ort zeigten sich von der Aktion beeindruckt und nahmen es mit Humor. „Jeder gibt sich eben Mühe“, sagte der Führer einer hessischen Hundertschaft. Der Umgangston vor Ort war freundlich. „Man kennt sich“, sagte Claus Heuer, aus Klein Witzeetze, einer der vier Angeketteten, und spielte dabei auf die Pyramiden-Aktion in Grippel vor zwei Jahren an.

Weniger Freude bei der Arbeit dürften die Einsatzkräfte am Verladebahnhof gehabt haben, wo sich der ehemalige Biertransporter einer hessischen Brauerei plötzlich als mobile Straßensperre von Greenpeace entpuppte und den Transport für Stunden daran hinderte, überhaupt den Verladebahnhof zu verlassen.

Damit hatten Demonstranten gleich zwei Aktionen durchgesetzt, die im Vorfeld wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die Einzel- und Massenaktionen haben für entsprechende Medienpräsenz gesorgt und so bundesweit bleibende Eindrücke hinterlassen. Ungewiss bleibt jedoch, wie die Politiker mit der auferstandenen Anti-Atombewegung umgehen werden.

Foto: Greenpeace Truck in der Ausfahrt der Castoren von Timo Vogt/randbild.de




2010-11-10 ; von Anna Carmienke (autor),

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