Gesine Auffenberg über „Atemschaukel“ von Herta Müller
Gulag-Romane lassen sich nicht aus zweiter Hand schreiben, sagt Iris Radisch in „Die Zeit“ und verweist auf die Lagerliteratur von Imre Kertesz und Schamarow (also Überlebenden), die in ihrer Eindringlichkeit und Authentizität nicht mehr zu übertreffen sind. Verglichen mit ihnen sei Herta Müllers Roman „eine Kunstschnee-Prosa mit Engelbeigaben und Herz-Schmerz-Vokabeln. Fliegende Engel und die Wie-Vergleichsmaschine, die alles in Einfalt miteinander verknüpft, gehören jedoch in eine Zeit, der die Erfahrung des Gulags noch bevorstand.“
„Wenn keine Zeitzeugen mehr leben, bleibt nur noch die Fiktion“, sagt Jorge Semprun, auch ein Überlebender. Imre Kertesz sagt: „Ich mußte das KZ neu erschaffen, um darüber schreiben zu können.“
Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ ist nicht nur Fiktion. Sie geht den Spuren ihrer Mutter nach, die als Rumänien-Deutsche bei Kriegsende in die russischen Lager zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. Sie geht dem Schweigen ihrer Mutter nach, die nie darüber gesprochen hat. Und sie trifft einen Gefährten, Begleiter, ehemals Überlebenden, nur durch die Worte Überlebenden, der erzählt. Oskar Pastior, ebenfalls Rumänien-Deutscher, ebenfalls verschleppt, experimenteller Lyriker, Zeichner, Lautdichter. Er und Herta Müller reisen zusammen in das Lager, er zeigt ihr nach all den Jahren seine Aufzeichnungen und Notizen, banale Notizen, wie er sagte, zum Beispiel darüber, wie aus einem löchrigen braunen Handschuh ein Weihnachtsbaum wurde. „Es wurde ein grüner Weihnachtsbaum mit Kerzen und er wurde zu meinem Reichtum.“
Herta Müller und Oskar Pastior beschließen, zusammen ein Buch über das Lager zu schreiben. Oskar Pastior stirbt plötzlich (zwei Tage vor der Verleihung des Büchner-Preises 2006). Herta Müller braucht zwei Jahre, um allein das Buchprojekt wieder aufzunehmen. Sie tut es mit den schwer leserlichen Notizen von Pastior. So wird das Buch auch zu seinem Nachruf. Sein Name wird nicht genannt, doch er ist wiederzutreffen, hat die Sprache mitgeprägt.
Es ist über weite Strecken eine lyrische Sprache, die versucht, das Überleben in Gegenwelten abzubilden. Man kann bei einigen Vergleichen allerdings geteilter Meinung sein, zum Beispiel „Der Mond stand wie ein Glas Milch am Himmel.“ Ich habe den Mond noch nie wie ein Glas Milch am Himmel stehend gesehen, vielleicht passiert es mir erst, wenn ich großen Hunger habe. Apropos Hunger, da gibt es, neben den „Hungerengeln“ noch mehr Kurioses. Zum Beispiel: „Ich hing schief an meinem Gaumensegel“ oder „die Halsadern tickten, die Augäpfel kochten.“ Ehrlich gesagt, mir ist das zu expressionistisch (womit ich Iris Radisch also teilweise zustimme). Aber man kann ja immer noch darüber hinweglesen (das ist leichter, als im Fernsehen über etwas hinwegzusehen und oder -zuhören, finde ich).
Was dann bleibt, ist eine berührende Geschichte. Ein junger Mann, 17 Jahre alt, der nur damit beschäftigt ist, seine Homosexualität (damals strafbar) unbemerkt auch vor den Eltern in Parks und Schwimmbädern auszuleben, wird zur Zwangsarbeit eingezogen. Die anfängliche Erleichterung darüber, endlich wegzukommen, weicht schnell der Ernüchterung, dem Hunger, dem Lageralltag. Fünf Jahre später, nach seiner Freilassung, kehrt er zu seinen Eltern zurück. Er ist nun ein Fremder. Er wird es bleiben. Oskar Pastior drückt diese Erfahrung in seinem Gedicht „abschrankung isst wegweiser“ lakonisch aus: Zurück, nicht zurück.
Biografisches und Hintergrund Sie hält viele Lesungen in Asylantenheimen, sucht immer wieder die Nähe zu ihrem Publikum, ist eine politische Autorin, die die Erfahrung der Diktatur thematisiert.. Herta Müller ist zweisprachig aufgewachsen, ihr Blick auf die deutsche Sprache ist oft ein fremder Blick, geprägt von Erstaunen und Spielfreude, nie selbstverständlich. Im Oktober erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. Rumänien stand während des Zweiten Weltkriegs auf der Seite des Deutschen Reiches, rumänische Truppen beteiligten sich an dem Einmarsch in die Sowjetunion. Erst die deutsche Niederlage löste das deutsch-rumänische Bündnis. Es folgte die Besetzung durch die Sowjetunion. Alle Deutsch-Rumänen wurden als „Wiedergutmachung“ zur Zwangsarbeit deportiert, Rumänien nach stalinistischem Vorbild organisiert. |