BUCH: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“

"Ein Feuerwerk der Lebenslust" nennt es Karl-Hein Farni

Ein dreifach Hoch dem anonymen Dichter, der 1554 den „Lazarillo de Tormes“ veröffentlichte. Denn dies war die Geburt des „Schelmenromans“, einer Art Abenteurergeschichte, nur daß hier der Held (auf den ersten Blick) eher kümmerlich daherkommt, als Antiheld, ein argloser Schalk von meist niederer Herkunft, der sich im Dienste verschiedener Herren mit List und eher unlauteren Machenschaften ebenso naiv wie erfolgreich durchs Leben schlägt. Im vorliegenden Fall ist der Schelm ein gerade 100 Jahre alt gewordener, der sich indes nicht durchs Leben schlägt sondern sprengt.

Mit „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ ist es so, als hätten sich Forrest Gump, die Marx Brothers, Till Eulenspiegel, Loriot, die Kaurismäkis und vielleicht noch Pettersson und Findus auf ein Wochenende in der schwedischen Einsamkeit zusammengefunden, um unter Zuhilfenahme mindestens eines Fasses Rotwein zusammen etwas auszuhecken, das vor Warmherzigkeit, Abgedrehtheit, Liebe, Spannung, Witz und einem Irrsinn, der der Wirklichkeit beängstigend nahe kommt, nur so sprüht. Und Jonas Jonasson, dem Autoren, gelingt sogar die Quadratur des Kreises: er verschafft diesem feinsinnig bissig humorigen Seelenschmaus immer wieder zwischendurch auch noch die berühmt pikante schwedische Prise Brutalität und Kälte – und, ein purer Luxus, läßt sogar noch eine echte Elefantendame mitspielen. Und wo Sonja, so ist ihr Name, nun mal dabei ist, kriegt sie auch gleich ein paar entscheidende Auftritte. Eines der besten und schönsten Bücher des Jahrzehnts, das vor allem Günter Grass ans Herz gelegt sei, damit der sieht, wie man ein Jahrhundert auch beschreiben kann.

Allan Karlsson sitzt an seinem hundertsten Geburtstag im Einzelzimmer eines Altersheims. Schwester Alice, ein liebevoll lächelnder Drache, der gemeinerweise alle seine Schnapsverstecke kennt, der Stadtrat und die Lokalpresse bereiten sich auf die Feier ihm zu Ehren vor. Doch Allan Karlsson, in Pantoffeln aber „noch nie ein großer Grübler“, steigt kurzerhand aus dem Fenster. Und nach den ersten wackeligen Schritten in den Rabatten beginnt das, was man im Film einen „Action-Thriller“ nennt – mit ein paar hinreißend lapidar komponierten, eigentlich nicht bös’ gemeinten aber perfekten Morden. In dieser Rahmengeschichte tut sich Allan mit einem jungen Spund, dem 70jährigen Kleinganoven Julius zusammen, und gemeinsam halten sie mit einem Koffer voller Geld halb Schweden in Atem.

Daneben wird Allan Karlssons Lebensgeschichte erzählt, ein Abbild des letzten Jahrhunderts. Obwohl ihm kaum etwas anderes so einerlei ist wie Politik, trifft er in seinem ausgedehnten Leben mit so ziemlich allen regierenden Berühmtheiten des 20. Jahrhunderts zusammen – und immer spielen Sprengstoff und Bomben eine Rolle dabei. So säuft er im April 1945, am Abend, als Roosevelt stirbt, dessen Nachfolger Harry Truman unter den Tisch, der ihm dafür einen Job in Los Alamos verschafft, wo wiederum Allan den Physikern verrät, wie man eine Atombombe zum Funktionieren bringt.

Später fragt er sich, ob das so richtig war. Und da er sich nicht sicher ist, schenkt er bald darauf auch den Russen das Rezept für die Bombe. Dann sorgt er dafür, daß Churchill einem Sprengstoffattentat entkommt und jagt dafür den, der dies vorhatte, in die Luft. Aber nicht, weil er Churchill sonderlich mochte. Nur den anderen, den mochte er nicht. Dann macht er noch Wladiwostok mithilfe einer Leuchtspurrakete dem Erdboden gleich, was wiederum Stalin umbringt, aber am Ende dazu führt, daß ihn Mao Tse-tung mit Dollars überschüttet, die er für einen langen Urlaub auf Bali verwendet – zusammen mit seinem todessehnsüchtigen Begleiter, dem strohdoofen Bruder von Albert Einstein, der auf Bali seine noch dümmere Traumfrau findet, die nun wiederum zu einer steilen politischen Karriere ansetzt.

Daß auch Lyndon B. Johnson und de Gaulle mitspielen, Maos Frau und die Frau von Chiang Kai-shek – klar! Stalin sowieso – wird aber kein schöner Abend, nicht gut gelaufen: Gulag. Aber was über Stalins Nachfolger gesagt wird, macht den staubtrockenen Humor des Buchs sichtbar: „...Chruschtschow, der nur einmal ein Zeichen menschlicher Wärme gezeigt hatte, als er nämlich Marschall Berija hinrichten ließ.“

 

Ein Feuerwerk ist ein Hort der Ruhe gegen dieses Buch. Aber es ist eben nicht nur herrlich irre, es zeigt ganz viel vom vergangenen Jahrhundert. Und der Schluß ist klasse – ebenso klasse wie die Übersetzung von Wibke Kuhn. Jonas Jonasson widmete dies Buch seinem Großvater, den er gleich am Anfang zitiert: „Wenn ein’n man jümmers bloß de Wohrheit vertellt, denn is dat de Tid nich wert, dat je em tohört.“




2012-01-25 ; von Karl-Heinz Farni (autor),

 

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