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Bundesverfassungsgericht: Hartz IV-Sätze müssen überarbeitet werden

Ganze 4,43 Euro täglich reichen nach Vorstellungen der Hartz-IV-Erfinder aus, um sich ausreichend mit Lebensmitteln, Getränken und Tabakwaren zu versorgen. Kinder brauchen angeblich nur 60 - 80 % dieses Satzes. Das Bundesverfassungsgericht entschied heute, dass dies nicht so bleiben darf und schrieb den Gesetzgebern ins Aufgabenbuch, bis zum Ende des Jahres für eine "an der Realität" orientierte Neuregelung zu sorgen.

Mit 4,43 Euro täglich soll ein Erwachsener auskommen. Das erscheint schon absurd wenig. Doch für die Versorgung von Kindern gestand der Gesetzgeber den Hartz-IV-Empfängern bisher sogar nur 60 % - 80 % dieses ohnehin schon geringen Satzes zu. Das sind 2,66 Euro - täglich.

Selbst bei größter Spardisziplin, klugem Einkaufsverhalten und Kochkunst der Eltern lässt sich ein Kind mit diesem Satz kaum ernähren, geschweige denn mit gesunden, vollwertigen Lebensmitteln.

Hier eine - beispielhafte - Berechnung, was für 2,66 Euro zu kaufen wäre (als Preise wurden Durchschnittswerte von Billig-Discountern angenommen):

1 Becher Joghurt = 0,20
2 Scheiben Brot  = 0,20
1 Wiener Würstchen = 0,60 (1,00 Euro vom Metzger)
1 Portion Kartoffelsalat = 0,50
1 Apfel = 0,30
0,2 l Orangensaft (Tüte zum Mitnehmen) = 0,30

Macht zusammen 2,00 Euro. Verbleiben also ganze 63 Cent für Extras wie Cola, Süssigkeiten oder Knabberkram. Doch auch das ist pure Illusion, denn "Kleinverbrauch" wie Butter, Tee oder Gewürze sind in den 2,00 Euro noch nicht enthalten.

Und stellt Mama den Kartoffelsalat selbst her, statt ihn fertig einzukaufen, so führt das vermutlich auch nicht zum Erfolg. Denn dann muss sie vom vorgesehenen Strombudget (1,43 täglich) mehr verbrauchen.

Da stellt sich die tägliche Frage: besser essen oder öfters duschen? Doch es gibt ja auch noch die Möglichkeit, an der Kleidung zu sparen. Denn immerhin stehen Mama ja 20,-- Euro im Monat zur Verfügung, um ihr Kind einzukleiden.

Aber was ist mit Klassenfahrten? Schulbüchern? Anschaffung und Betrieb eines internetfähigen Computers? Oder schlicht die Fahrt zur Schule? In Lüchow-Dannenberg haben die Schüler Glück. In ganz Niedersachsen gilt (noch) die Spielregel, dass Schüler bis zur 11. Klasse kostenlos zur Schüle befördert werden. Ab der 11. Klasse übernimmt nach Auskunft der Schulbehörde der Landkreis notwendige Kosten der Beförderung.

Trotzdem: Mit Hartz IV in Würde zu überleben erscheint angesichts dieser Zahlen schier unmöglich.

Keine Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

Drei Familien mit Kindern hatten sich bis zum obersten Gericht durchgeklagt, weil ihnen eine ausreichende Versorgung ihrer Kinder mit den geltenden Hartz IV-Sätzen unmöglich erschien.

Das Bundesverfassungsgericht (BVG) gab ihnen recht - zumindest was die Berechnungsgrundlagen angeht.

Im Klartext: Die bisherigen Hartz-IV-Sätze entsprechen nicht dem Grundgesetz. Für das BVG muss ein Existenzminimum, nicht nur die physische Existenz der Bedürftigen ermöglichen, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.

Weiter heißt es im Urteil: "Dieses Grundrecht ... ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat."

Insbesondere die Berechnungsgrundlagen für die Regelsätze hielten die Richter für nicht zulässig: "verlässliche Zahlen" und "schlüssige Berechnungsverfahren" müssen Grundlage für zukünftige Hartz-IV-Sätze sein - nicht  die Anwendung statistischer Grunddaten. Diese Berechnungen müssen nachvollzieh- und kontrollierbar sein und regelmässig den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden.

Doch Hartz-IV-Empfänger sollten sich nicht zu früh freuen: die Höhe der derzeitigen Regelsätze wurde von den Richtern nicht grundsätzlich kritisiert. Im Gegenteil: "Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil sie zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums besonders weit ist", heißt es in dem Urteil. Ähnliches beurteilten sie auch die Höhe der Regelsätze für Kinder.

Was sollen Hartz-Empfänger nun tun?

Bis zum 31.12.2010 hat die Bundesregierung jetzt Zeit, die Hartz-IV-Regelsätze zu überarbeiten. Erst später im Jahr wird sich zeigen, wie die Bundesregierung das Urteil umsetzen wird.

Alle Betroffenen aber, die bisher mit ihren Anträgen auf "besonderen Bedarf", der ihnen z.B. durch Kosten für Kinderbetreuung oder chronische Krankheiten regelmässig entsteht, gescheitert sind, rät z.B. RA Gutmacher vom Berliner Anwaltsverein, diese Anträge möglichst schnell neu zu stellen bzw. Widerspruch gegen abschlägige Bescheide einzulegen, sofern hier die Fristen noch nicht abgelaufen sind.

Denn in Sachen "besonderer Bedarf" hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass "bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber angeordnet wird, dass dieser Anspruch .... zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden kann."

Da es bei der Agentur für Arbeit in den nächsten Wochen vermutlich viel Verwirrung geben wird, bis die Konsequenzen des heutigen Urteils auch als Handlungsanweisungen für die Sachbearbeiter vorliegen, empfiehlt es sich, unterstützend eine Sozialberatung oder einen Anwalt einzuschalten.

Tipp: Hartz-IV-Empfänger können sich beim Amtsgericht einen sogenannten Beratungshilfeschein holen, mit dem dann der Anwalt seine Kosten bei der Justizbehörde abrechnen kann. Wie der Beratungshilfeschein zu beantragen ist, weiß ebenfalls der Anwalt, so dass niemand befürchten muss, auf den Anwaltskosten sitzen zu bleiben - vorausgesetzt, man hat das Thema schon zu Beginn der Beratung mit dem Anwalt besprochen.

Kostenlose Sozialberatung gibt es im Landkreis auch bei der AWO: donnerstags von 9 - 11 Uhr im Lüchower Büro der AWO, Georgstraße 2, Tel. 05841-979212 oder mittwochs von 16.00 - 17.30 Uhr im Dannenberger Büro, Probsteikamp 12, Tel. 05861-979535. In Lüneburg berät die Jugendsozialberatung, Tel. 04131-8629820.

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2010-02-09 ; von Angelika Blank (autor),

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