ZERO/Psychologie: Karl-Heinz Farni über ein alltägliches Theater, das allzu oft als Liebe verkauft wird
Überaus liebevoll streicht die Mutter ihrem Dreijährigen über den Kopf. Sie lächelt sanft, während sie ihm etwas ins Ohr flüstert. Bevor der Junge den Kindergarten betritt, hebt ihn die Mutter noch einmal hoch und küßt ihn zärtlich auf die Stirn. Die Umstehenden, die die Szene beobachten, sind gerührt und fangen ebenfalls an zu lächeln. Die Mutter registriert das und freut sich.
Der einzige, der alles andere als glücklich aussieht und sich sichtlich anstrengen muß, um mitlächeln zu können, ist der, um den es vermeintlich geht: der dreijährige Junge, der froh zu sein scheint, nun endlich in den Kindergarten verschwinden zu können.
Seit einiger Zeit häufen sich in psychologischen Praxen Klienten, die sich nach eigenen Worten „eigentlich nicht beklagen können“. Sie suchen nicht deshalb Hilfe, weil ihre Eltern sie brutal behandelt hätten, nicht wegen fehlender Zuwendung und Liebe oder Überforderung und offener Mißachtung. Im Gegenteil: Auf ihre Kindheit angesprochen, sagen diese Menschen: „Nein, meine Eltern waren vorbildlich. Beide, mein Vater wie meine Mutter, waren viel für mich da, sie haben häufig mit mir gespielt, es war fast immer lustig und sehr liebevoll. Alle meine Freunde und Freundinnen haben mich immer um meine Eltern beneidet.“ Das einzig Irritierende: Während sie das sagen, sind sie merkwürdig unbeteiligt, sehen eingefroren traurig, manchmal auch versteckt zornig, vor allem aber leer aus.
Als Therapeut hat man hier zuerst einmal seine Zweifel: Der schminkt sich seine Kindheit doch bloß schön; in Wahrheit war alles ganz anders. Diese Wahrheit hält er nur nicht aus. Und dieser Gedanke ist ebenso richtig wie falsch. Denn die Eltern eines solchen Klienten haben sich tatsächlich so vorbildlich verhalten wie beschrieben. Aber „vorbildlich verhalten“ ist da ganz wörtlich zu nehmen: Solche Eltern geben ihrem Kind alles, was es braucht, sind durchweg freundlich und zuvorkommend, zärtlich und aufmerksam – nur kommt all dies nicht wirklich von Herzen, es ist bloß Schminke, eine Verpackung, ein Sich-Verhalten, eine Art Vorführung. Es geht den Eltern bei all ihrer Mustergültigkeit nicht um ihr Kind und dessen Wohlergehen, es geht ihnen lediglich um die Darstellung guter, möglichst erstklassiger Elternschaft, um die Wirkung nach außen. Die Galerie soll ihnen Beifall zollen und sie als „gute Eltern“ anerkennen.
Diese Vorführung geben Eltern natürlich nicht böswillig und bewußt. Und das Theater ist auch nicht auf solche Situationen beschränkt, in denen ein tatsächliches „Publikum“ anwesend ist. Die Show findet durchgängig statt, auch wenn Vater und Sohn oder Tochter und Mutter allein sind – der eigentliche Beobachter, der überzeugt werden soll, existiert nicht real, sondern nur vorgestellt, verinnerlicht in der eigenen Psyche.
Aber daß Eltern nicht merken, wenn sie Theater spielen anstatt sich zu leben, das macht die Sache für die betroffenen Kinder nicht nur nicht besser, sondern eher aussichtsloser, da alle Bitten und Proteste, all ihre Versuche, auf das Problem aufmerksam zu machen, unverstanden bleiben, ja, auf den bitter beleidigten Vorwurf der Undankbarkeit stoßen. Das Kind erlebt hier tatsächlich einen Mißbrauch, für den es sich auch noch bedanken soll.
Diese, rein äußerlich gesehen, physisch wie psychisch von den Eltern blendend versorgten Kinder sind auch im späteren Leben meist sehr erfolgreich und werden nun schon wieder von vielen anderen beneidet, während sie latent unter einer extremen inneren Leere leiden, da sie keine Liebe um ihrer selbst willen erfahren haben, sondern lediglich als Beweismittel für die Güte der Eltern benutzt wurden und Vater und Mutter nur als Harmonie abstrahlende Attrappen, Hüllen und Dummies erlebt haben.
Das Phänomen, möglichst viel darstellen zu müssen, die Tendenz, daß die Verpackung wichtiger als der Inhalt wird, ist eine Zeitkrankheit. Verlieren politische Parteien an Wählergunst, so korrigieren sie in aller Regel nicht ihren Kurs, verändern nicht – wenn sie denn überhaupt welche haben – ihre Inhalte. Statt dessen lautet die über alle Lager hinweg gleiche Reaktion: Wir müssen unser „Erscheinungsbild“ verbessern, wir müssen uns aufhübschen, einen attraktiveren Eindruck vermitteln, uns wirkungsvoller verkaufen. Das gilt für alles, was sich „auf dem Markt“ beweisen und verkauft werden soll. Ob Autos, Zigaretten, Bier, Baumärkte, Popstars – das eigentliche Produkt gerät mehr und mehr in den Hintergrund – dominierend und alles entscheidend wird das Image, das, was dargestellt und symbolisiert, der Eindruck, der vermittelt werden soll.
Nun sind Prestige, Reputation, Ausstrahlung, ein guter Ruf Werte, die von jeher Geltung hatten. Früher wurde ihnen jedoch nur in dem Maße ein Wert zugesprochen, wie das Image den jeweiligen Inhalt einer Sache oder auch eines Menschen nach außen spiegelt, ihn repräsentiert, ihn handgreiflich und fühlbar werden läßt. Dieser Anspruch der Deckungsgleichheit hat sich zwischenzeitlich aufgelöst. Das Image beginnt, sich vom Kern zu befreien, den Inhalt abzuhängen: Es wird der Ministerpräsident, der den vorgestellten „idealen Gesamtministerpräsidenten“ am besten darstellt. Es ist das Bier der Renner, dessen Werbung das angenehmste Gefühl verbreitet – ob es meinem Geschmack entspricht, wird zunehmend unwichtiger.
Das färbt mehr und mehr auf den Charakter der menschlichen Beziehungen ab. Und das Ergebnis ist auch hier eine wachsende Leere. Trotzdem kann man das Ganze bis hierher noch als eine Art Hütchenspiel betrachten, an dem teilzunehmen jedem schließlich freigestellt ist: Wer sich von einem Image, hinter dem Hohlheit gähnt, auf die Schippe nehmen und reinlegen läßt, ist selbst dran schuld.
Das gilt indes nur, solange dieses Spiel unter gleichberechtigt Erwachsenen gespielt wird. Wird es aber in unserem Fall nicht. Das Agieren für die Galerie ist längst in unser alltägliches, privates, intimes Leben eingedrungen und spielt immer häufiger auch zwischen Eltern und Kindern eine verheerende Rolle.
Die Ursache dafür, daß wir uns über die Maße am gesellschaftlichen Idealbild orientieren und herrschende Muster nachstellen, anstatt zu dem zu stehen und das nach außen zu bringen, was wir in uns spüren, ist eine tiefe Verunsicherung. Die stammt jeweils individuell aus der eigenen Kindheit, wird jedoch durch die allgemeine Flut an Bebilderung, durch das tägliche Bombardement von Werbung und Medien mit „Vorbildern“ immens verstärkt.
Sehr stark trifft das gerade für Eltern zu. Was Kindererziehung anlangt, herrscht bei uns ein geradezu terroristischer Anspruch auf ständige, zuckersüße Liebe. In der Werbung lächeln Eltern schon morgens beim Frühstück um fünf – selbst wenn nicht einmal Butter sondern nur Margarine auf dem Tisch steht. Im herrschenden Idealbild haben Eltern gefälligst 24 Stunden täglich dafür zu sorgen, daß ihre Kinder aus der Dauer-Befriedigung gar nicht mehr herauskommen und ihnen als Folge dessen irgendwann Flügel wachsen.
Und die kleinen Engel haben – bitteschön! –alles, was sie wollen, auf der Stelle zu bekommen – und zwar liebevoll, versteht sich. Zwar gibt – theoretisch – jeder zu, daß Kindern Grenzen zu setzen eine der wichtigsten, wenn auch unangenehmsten Aufgaben von Eltern ist. Aber setzt man als Vater oder Mutter tatsächlich Grenzen und wird das von anderen beobachtet, so erntet man im besseren Fall ein „Ach-lassen-Sie-sie-doch!“, im schlechteren Fall Blicke voller Rabeneltern-Vorwurf.
Deshalb gehört Mut dazu, unserem arg blu-menumkränzten Leitbild von Elternschaft auch mal nicht zu entsprechen und das zu tun, was man selbst für das gerade Richtige hält, so zu sein, wie man sich fühlt. Selbst, wenn das ab und an „falsch“ sein sollte, ist es doch authentisch und damit im wahrsten Sinne des Wortes richtig. Man muß dann nur aushalten können, von anderen als schlechte Mutter oder schlechter Vater angeschaut zu werden.
Diese Kraft aber fehlt genau jenen Eltern, die für die Galerie leben, die sich abhängig von äußerer Bewertung machen. Denn so sicher sie nach außen oft wirken mögen – im Innern sind solche Eltern tief verunsichert. Aus ihrer Kindheit herrührend, tragen sie das äußerst unangenehme Gefühl in sich, auf ganz grundsätzliche Weise „irgendwie nicht richtig“ zu sein. Welcher Impuls auch immer in ihnen hochsteigt, er stößt auf ein inneres Brauenhochziehen und Augenrollen: Was hast du denn bloß jetzt schon wieder vor? Und bei jedem vorwurfsvollen, mißbilligenden Blick der Nachbarin oder der Freundin wird dieses Gefühl schmerzhaft reaktiviert.
Die naheliegende „Lösung“ des Problems scheint darin zu liegen, einfach keinen „Fehler“ mehr zu machen, niemandem jemals wieder eine Chance zu geben, irgend etwas falsch an meinem Verhalten zu finden. Das jedoch ist erstens ungeheuer anstrengend und vor allem: der dauernde Versuch, einen möglichst perfekten Eindruck zu machen, hat einen ebenso dauernden Preis: es entsteht kein Kontakt zu mir selbst, damit automatisch auch zu keinem anderen – und schon gar keiner zu meinem Kind. Wobei die Verunsicherung bei Vätern besonders groß zu sein scheint. Seit das Patriarchendenkmal umgekippt ist, wissen viele Väter überhaupt nicht mehr, was nun genau ihre Rolle ist. Die Mehrzahl der Väter entzieht sich daher wie eh und je ihren Kindern, bleibt für sie ein Phantom, das morgens aus dem Haus geht, irgendwo irgendwas arbeitet, abends müde und Ruhe haben wollend wiederkommt und anonym fürs Überleben sorgt.
Immer öfter aber schlagen Väter auch die extreme Gegenrichtung ein. Dann wollen sie der Welt (und das ist, psychisch gesehen, immer die eigene Mutter) zeigen, was eine richtige Vater-Harke ist. Solche Väter gehen gern in Konkurrenz zur eigenen Frau, stürzen sich so oft wie irgend möglich auf ihre Kinder und mutieren zum „Mappi“, werden ein Mami-Papi, der kurz davorsteht, daß ihm die Brüste anschwellen. Diese – möglichst für jeden sichtbare – fürsorgliche Belagerung der eigenen Kinder dient dabei nur einem einzigen Zweck: der eigenen inneren Mutter gegenüber täglich aufs Neue den Beweis anzutreten, daß man ein besserer Vater ist, als es der eigene war. Dabei bleibt man nicht nur in tödlicher Rivalität zum inneren Vater, sondern vor allem werden die eigenen Kinder zu Beweismitteln degradiert.
Lösen läßt sich dieses Problem nur äußerst zäh und langfristig. Aber wie bei fast allen psychischen Problemen ist die Erkenntnis, daß etwas schiefläuft, zwar nur der erste aber doch der entscheidende Schritt. Sobald einem bewußt wird, daß und wann man schauspielert, wann man zur Elternattrappe mutiert, wird jedes betroffene Kind spürbar aufatmen. Denn auch, wenn niemand die Show von einem Tag auf den anderen beenden kann – das Kind kann nun endlich mit seinen Beschwerden bei den Eltern auf offene Ohren stoßen. Und Glück ist nicht, alles zu kriegen. Glück ist, anzukommen.
Psychologie
Die Eltern-Attrappen
Karl-Heinz Farni über ein alltägliches Theater, das allzu oft als Liebe verkauft wird
Überaus liebevoll streicht die Mutter ihrem Dreijährigen über den Kopf. Sie lächelt sanft, während sie ihm etwas ins Ohr flüstert. Bevor der Junge den Kindergarten betritt, hebt ihn die Mutter noch einmal hoch und küßt ihn zärtlich auf die Stirn. Die Umstehenden, die die Szene beobachten, sind gerührt und fangen ebenfalls an zu lächeln. Die Mutter registriert das und freut sich.
Der einzige, der alles andere als glücklich aussieht und sich sichtlich anstrengen muß, um mitlächeln zu können, ist der, um den es vermeintlich geht: der dreijährige Junge, der froh zu sein scheint, nun endlich in den Kindergarten verschwinden zu können.
Seit einiger Zeit häufen sich in psychologischen Praxen Klienten, die sich nach eigenen Worten „eigentlich nicht beklagen können“. Sie suchen nicht deshalb Hilfe, weil ihre Eltern sie brutal behandelt hätten, nicht wegen fehlender Zuwendung und Liebe oder Überforderung und offener Mißachtung. Im Gegenteil: Auf ihre Kindheit angesprochen, sagen diese Menschen: „Nein, meine Eltern waren vorbildlich. Beide, mein Vater wie meine Mutter, waren viel für mich da, sie haben häufig mit mir gespielt, es war fast immer lustig und sehr liebevoll. Alle meine Freunde und Freundinnen haben mich immer um meine Eltern beneidet.“ Das einzig Irritierende: Während sie das sagen, sind sie merkwürdig unbeteiligt, sehen eingefroren traurig, manchmal auch versteckt zornig, vor allem aber leer aus.
Als Therapeut hat man hier zuerst einmal seine Zweifel: Der schminkt sich seine Kindheit doch bloß schön; in Wahrheit war alles ganz anders. Diese Wahrheit hält er nur nicht aus. Und dieser Gedanke ist ebenso richtig wie falsch. Denn die Eltern eines solchen Klienten haben sich tatsächlich so vorbildlich verhalten wie beschrieben. Aber „vorbildlich verhalten“ ist da ganz wörtlich zu nehmen: Solche Eltern geben ihrem Kind alles, was es braucht, sind durchweg freundlich und zuvorkommend, zärtlich und aufmerksam – nur kommt all dies nicht wirklich von Herzen, es ist bloß Schminke, eine Verpackung, ein Sich-Verhalten, eine Art Vorführung. Es geht den Eltern bei all ihrer Mustergültigkeit nicht um ihr Kind und dessen Wohlergehen, es geht ihnen lediglich um die Darstellung guter, möglichst erstklassiger Elternschaft, um die Wirkung nach außen. Die Galerie soll ihnen Beifall zollen und sie als „gute Eltern“ anerkennen.
Diese Vorführung geben Eltern natürlich nicht böswillig und bewußt. Und das Theater ist auch nicht auf solche Situationen beschränkt, in denen ein tatsächliches „Publikum“ anwesend ist. Die Show findet durchgängig statt, auch wenn Vater und Sohn oder Tochter und Mutter allein sind – der eigentliche Beobachter, der überzeugt werden soll, existiert nicht real, sondern nur vorgestellt, verinnerlicht in der eigenen Psyche.
Aber daß Eltern nicht merken, wenn sie Theater spielen anstatt sich zu leben, das macht die Sache für die betroffenen Kinder nicht nur nicht besser, sondern eher aussichtsloser, da alle Bitten und Proteste, all ihre Versuche, auf das Problem aufmerksam zu machen, unverstanden bleiben, ja, auf den bitter beleidigten Vorwurf der Undankbarkeit stoßen. Das Kind erlebt hier tatsächlich einen Mißbrauch, für den es sich auch noch bedanken soll.
Diese, rein äußerlich gesehen, physisch wie psychisch von den Eltern blendend versorgten Kinder sind auch im späteren Leben meist sehr erfolgreich und werden nun schon wieder von vielen anderen beneidet, während sie latent unter einer extremen inneren Leere leiden, da sie keine Liebe um ihrer selbst willen erfahren haben, sondern lediglich als Beweismittel für die Güte der Eltern benutzt wurden und Vater und Mutter nur als Harmonie abstrahlende Attrappen, Hüllen und Dummies erlebt haben.
Das Phänomen, möglichst viel darstellen zu müssen, die Tendenz, daß die Verpackung wichtiger als der Inhalt wird, ist eine Zeitkrankheit. Verlieren politische Parteien an Wählergunst, so korrigieren sie in aller Regel nicht ihren Kurs, verändern nicht – wenn sie denn überhaupt welche haben – ihre Inhalte. Statt dessen lautet die über alle Lager hinweg gleiche Reaktion: Wir müssen unser „Erscheinungsbild“ verbessern, wir müssen uns aufhübschen, einen attraktiveren Eindruck vermitteln, uns wirkungsvoller verkaufen. Das gilt für alles, was sich „auf dem Markt“ beweisen und verkauft werden soll. Ob Autos, Zigaretten, Bier, Baumärkte, Popstars – das eigentliche Produkt gerät mehr und mehr in den Hintergrund – dominierend und alles entscheidend wird das Image, das, was dargestellt und symbolisiert, der Eindruck, der vermittelt werden soll.
Nun sind Prestige, Reputation, Ausstrahlung, ein guter Ruf Werte, die von jeher Geltung hatten. Früher wurde ihnen jedoch nur in dem Maße ein Wert zugesprochen, wie das Image den jeweiligen Inhalt einer Sache oder auch eines Menschen nach außen spiegelt, ihn repräsentiert, ihn handgreiflich und fühlbar werden läßt. Dieser Anspruch der Deckungsgleichheit hat sich zwischenzeitlich aufgelöst. Das Image beginnt, sich vom Kern zu befreien, den Inhalt abzuhängen: Es wird der Ministerpräsident, der den vorgestellten „idealen Gesamtministerpräsidenten“ am besten darstellt. Es ist das Bier der Renner, dessen Werbung das angenehmste Gefühl verbreitet – ob es meinem Geschmack entspricht, wird zunehmend unwichtiger.
Das färbt mehr und mehr auf den Charakter der menschlichen Beziehungen ab. Und das Ergebnis ist auch hier eine wachsende Leere. Trotzdem kann man das Ganze bis hierher noch als eine Art Hütchenspiel betrachten, an dem teilzunehmen jedem schließlich freigestellt ist: Wer sich von einem Image, hinter dem Hohlheit gähnt, auf die Schippe nehmen und reinlegen läßt, ist selbst dran schuld.
Das gilt indes nur, solange dieses Spiel unter gleichberechtigt Erwachsenen gespielt wird. Wird es aber in unserem Fall nicht. Das Agieren für die Galerie ist längst in unser alltägliches, privates, intimes Leben eingedrungen und spielt immer häufiger auch zwischen Eltern und Kindern eine verheerende Rolle.
Die Ursache dafür, daß wir uns über die Maße am gesellschaftlichen Idealbild orientieren und herrschende Muster nachstellen, anstatt zu dem zu stehen und das nach außen zu bringen, was wir in uns spüren, ist eine tiefe Verunsicherung. Die stammt jeweils individuell aus der eigenen Kindheit, wird jedoch durch die allgemeine Flut an Bebilderung, durch das tägliche Bombardement von Werbung und Medien mit „Vorbildern“ immens verstärkt.
Sehr stark trifft das gerade für Eltern zu. Was Kindererziehung anlangt, herrscht bei uns ein geradezu terroristischer Anspruch auf ständige, zuckersüße Liebe. In der Werbung lächeln Eltern schon morgens beim Frühstück um fünf – selbst wenn nicht einmal Butter sondern nur Margarine auf dem Tisch steht. Im herrschenden Idealbild haben Eltern gefälligst 24 Stunden täglich dafür zu sorgen, daß ihre Kinder aus der Dauer-Befriedigung gar nicht mehr herauskommen und ihnen als Folge dessen irgendwann Flügel wachsen.
Und die kleinen Engel haben – bitteschön! –alles, was sie wollen, auf der Stelle zu bekommen – und zwar liebevoll, versteht sich. Zwar gibt – theoretisch – jeder zu, daß Kindern Grenzen zu setzen eine der wichtigsten, wenn auch unangenehmsten Aufgaben von Eltern ist. Aber setzt man als Vater oder Mutter tatsächlich Grenzen und wird das von anderen beobachtet, so erntet man im besseren Fall ein „Ach-lassen-Sie-sie-doch!“, im schlechteren Fall Blicke voller Rabeneltern-Vorwurf.
Deshalb gehört Mut dazu, unserem arg blu-menumkränzten Leitbild von Elternschaft auch mal nicht zu entsprechen und das zu tun, was man selbst für das gerade Richtige hält, so zu sein, wie man sich fühlt. Selbst, wenn das ab und an „falsch“ sein sollte, ist es doch authentisch und damit im wahrsten Sinne des Wortes richtig. Man muß dann nur aushalten können, von anderen als schlechte Mutter oder schlechter Vater angeschaut zu werden.
Diese Kraft aber fehlt genau jenen Eltern, die für die Galerie leben, die sich abhängig von äußerer Bewertung machen. Denn so sicher sie nach außen oft wirken mögen – im Innern sind solche Eltern tief verunsichert. Aus ihrer Kindheit herrührend, tragen sie das äußerst unangenehme Gefühl in sich, auf ganz grundsätzliche Weise „irgendwie nicht richtig“ zu sein. Welcher Impuls auch immer in ihnen hochsteigt, er stößt auf ein inneres Brauenhochziehen und Augenrollen: Was hast du denn bloß jetzt schon wieder vor? Und bei jedem vorwurfsvollen, mißbilligenden Blick der Nachbarin oder der Freundin wird dieses Gefühl schmerzhaft reaktiviert.
Die naheliegende „Lösung“ des Problems scheint darin zu liegen, einfach keinen „Fehler“ mehr zu machen, niemandem jemals wieder eine Chance zu geben, irgend etwas falsch an meinem Verhalten zu finden. Das jedoch ist erstens ungeheuer anstrengend und vor allem: der dauernde Versuch, einen möglichst perfekten Eindruck zu machen, hat einen ebenso dauernden Preis: es entsteht kein Kontakt zu mir selbst, damit automatisch auch zu keinem anderen – und schon gar keiner zu meinem Kind. Wobei die Verunsicherung bei Vätern besonders groß zu sein scheint. Seit das Patriarchendenkmal umgekippt ist, wissen viele Väter überhaupt nicht mehr, was nun genau ihre Rolle ist. Die Mehrzahl der Väter entzieht sich daher wie eh und je ihren Kindern, bleibt für sie ein Phantom, das morgens aus dem Haus geht, irgendwo irgendwas arbeitet, abends müde und Ruhe haben wollend wiederkommt und anonym fürs Überleben sorgt.
Immer öfter aber schlagen Väter auch die extreme Gegenrichtung ein. Dann wollen sie der Welt (und das ist, psychisch gesehen, immer die eigene Mutter) zeigen, was eine richtige Vater-Harke ist. Solche Väter gehen gern in Konkurrenz zur eigenen Frau, stürzen sich so oft wie irgend möglich auf ihre Kinder und mutieren zum „Mappi“, werden ein Mami-Papi, der kurz davorsteht, daß ihm die Brüste anschwellen. Diese – möglichst für jeden sichtbare – fürsorgliche Belagerung der eigenen Kinder dient dabei nur einem einzigen Zweck: der eigenen inneren Mutter gegenüber täglich aufs Neue den Beweis anzutreten, daß man ein besserer Vater ist, als es der eigene war. Dabei bleibt man nicht nur in tödlicher Rivalität zum inneren Vater, sondern vor allem werden die eigenen Kinder zu Beweismitteln degradiert.
Lösen läßt sich dieses Problem nur äußerst zäh und langfristig. Aber wie bei fast allen psychischen Problemen ist die Erkenntnis, daß etwas schiefläuft, zwar nur der erste aber doch der entscheidende Schritt. Sobald einem bewußt wird, daß und wann man schauspielert, wann man zur Elternattrappe mutiert, wird jedes betroffene Kind spürbar aufatmen. Denn auch, wenn niemand die Show von einem Tag auf den anderen beenden kann – das Kind kann nun endlich mit seinen Beschwerden bei den Eltern auf offene Ohren stoßen. Und Glück ist nicht, alles zu kriegen. Glück ist, anzukommen.