Während in Lüchow die erste Notunterkunft wieder geschlossen wird, landen allnächtlich Flüchtlinge auf dem Hundertwasser-Bahnhof in Uelzen - umsorgt von einer unermüdlichen Schar ehrenamtlicher Helfer. Hier ein Bericht von einem dieser Unterstützer, Joost Rot.
Flüchtlingszuflucht Hundertwasserbahnhof Uelzen, Nacht vom 29.12. auf 30.12.2015. Es ist unsere 40. Nacht am Bahnhof. Für den in Uelzen endenden
23.46-Uhr-Zug werden telefonisch von den FahrgastbetreuerInnen fünf bis acht erwachsene Flüchtlinge auf dem Weg nach
Hamburg angekündigt. Wir
packen zwei Taschen mit Wasser, Essen, Bechern und Tee und schultern den
Deckenrucksack, weil wir davon ausgehen diese, da ohne Kinder reisend,
am Bahnsteig zu versorgen, bis die Weiterfahrt im ICE um 0.50 Uhr
möglich ist.
Es besteht eine gewisse Diskrepanz zur uns begegnenden
Situation. _Aus dem Zug steigt eine junge irakische Familie: Vater und Mutter mit einem drei
Monate jungen Säugling, einem dauerschlafenden 3jährigen Kind, einem 6jährigen Kind
einem etwa 13jährigen Sohn sowie einem weiteren jungen Familienangehörigen
(insgesamt also sieben Familienmitglieder). Außerdem kommt eine Familie aus Afghanistan an, ein sehr alter Mann
und seine Frau sowie zwei junge Frauen und drei weitere Männer.
Wir
entscheiden uns wegen des sehr kalten Ostwinds, der uns um die Ohren
pfeift, mit den kleinen Kindern und den etwas gebrechlich wirkenden älteren
Herrschaften doch in die Flüchtlingszuflucht zu gehen und die Zeit bis
zum Eintreffen des ICE dort abzuwarten.
Außerdem nehmen wir drei
junge Männer auf dem Weg nach Suderburg und eine afrikanische Frau auf
dem Weg nach Braunschweig mit. Die Frau ist so müde, daß sie sich, ohne
vorher viel zu Essen, sofort in unserem Kinderzimmer hinlegt und trotz
des Gewimmels um sie rum auf der Stelle fest einschläft.
Alle
anderen erhalten Essen - eine Helferin hat ein leckeres Linsengericht gekocht -
Obst, Kekse und Tee. Die Augen des kleinen Jungen leuchten, als ich ihm
Datteln und Schokolade anbiete und auch sein großer Bruder freut sich.
Der 3jährige kleine Junge bekommt von allem nix mit. Er schläft bis zur
Weiterfahrt im ICE. Ich bekomme telefonisch die Zusage, daß alle im ICE
mitfahren können.
Kurz danach steht ein Bundesploizist vor der Tür
unserer Zuflucht und wir ahnen schon wieder Böses. Müssen wir wieder einmal ein
oder zwei völlig verschüchterte Menschen entgegen nehmen, die
wg. Schwarzfahrens und ohne gültige Papiere einige Zeit auf dem Revier
verbringen mussten? Aber nein. Es ist nur die Ankündigung, daß mit dem
0.38er Zug weitere 30 Flüchtlinge eintreffen werden.
D. h., erneutes Anrufen bei der Bahn. Auch hier erhalte ich die Zustimmung zur Weiterfahrt. Also teilen wir uns auf, Naafee Mu
-Thank you very much for translating and helping - nimmt den
Deckenrucksack und die Becher und den Tee und geht mit zwei weiteren
HelferInnen zum Bahnsteig. Wir bleiben zu dritt mit Ribal, unserem
anderen Übersetzer, in der Zuflucht, um die Menschen zum 0.50er ICE zu
begleiten und weiteres Essen zu kochen.
Es erweist sich wie immer als schwierig, alle pünktlich startklar zu haben, um sie durch die unterirdischen Gänge wieder zum Bahnsteig zu begleiten. Ich fange an, ein wenig zu drängeln, denn die Mutter mit den vier Kindern bewegt sich nicht. Sie wirkt erschöpft und scheint es zu genießen, gut zugedeckt mit ihrem winzig kleinen Säugling auf der warmen Matte zu liegen. Der Dreijährige schläft ohnehin so fest, das er noch nicht einmal die Augen aufgeschlagen hat und der ca. 6jährige spielt unbekümmert mit seinem großen Bruder im Kinderzimmer.
Egal was ich sage, es führt nicht dazu, daß
jemand aufsteht. Ich vermisse den Vater und den anderen jungen Mann, die
die Kinder und die schweren Rucksäcke hergetragen haben. Energisch sage
ich "Go" - und nehme den schlafenden Dreijährigen auf den Arm, um zum
Bahnsteig zu gehen, hoffend, daß die Mutter mitkommt und daß sich der
Vater wieder anfindet, um zu helfen.
Zu allem Überfluss ist auch noch
mein Übersetzer verschwunden. Ich kann weder die Notwendigkeit des
Aufbruchs kommunizieren, noch erfahren, wohin die beiden Männer
verschwunden sind. Im Zimmer stehen noch die zwei schweren Rucksäcke,
ich schnappe mir einen - auf einen Arm den Kleenen, auf den anderen den Rucksack. Der
mittlere Junge telefoniert derweil aufgeregt, als suche auch er den
Vater. Die Zeit rinnt. Ob der ICE auf uns wartet ist sehr fraglich. Ob
unsere Helfer ihn zum Warten bewegen können, auch.
Ich rufe laut: Go.
Darauf kommt zumindest der mittlere Junge mit seinem Handy zurück und
ergreift den zweiten schweren Rucksack. Mir fällt auf, daß die Mutter
nur eine dünne Bluse und eine Weste an hat. Der Vater bleibt
verschwunden. Es ist zum verrückt werden. Ich stelle den Rucksack
wieder ab, angle mit einer Hand zwei große Herrenjacken vom
Kleiderständer und bringe sie der Mutter. Sie guckt befremdet, zieht
dann aber doch eine an.
Als ich zum dritten Mal Go rufe, damit sich die
Rucksack-, Klein- und mittlere Kinderkarawane in Bewegung setzt,
erbricht sich der kleine Säugling über die neue Jacke und den Rucksack,
den die Mutter zusätzlich zum Säugling trägt - alles ist voll. Zum
dritten Mal schweren Rucksack abstellen, mit einer Hand einen Lappen
angeln, Kind, Mutter und Rucksack abtupfen - und los geht's zum
Bahnsteig.
Der ICE ist längst da. Zwischen ihm und uns sind noch zwei
Treppen und ein langer Gang. An der Treppe stehen unser Übersetzer und
der junge Familienangehörige und helfen den Kinderwagen die Treppe
runterzutragen. Wir hetzen durch die Gänge, der Vater ist weiterhin
unauffindbar. Mir schießt durch den Kopf, "hoffentlich haben wir ihn
nicht oben in der Flüchtlingszuflucht auf der Toilette oder unter der
Dusche vergessen".
Die Bundespolizei hilft die Treppe zum Bahnsteig zu
überwinden und wir treffen oben den Vater wieder. Nicht zu fassen.
Glücklich lacht er uns an und freut sich, uns wieder zu sehen. Ich habe
weiterhin den Kleenen auf dem Arm und niemand macht Anstalten, ihn mir
abzunehmen. Ich trage ihn in den ICE.
Alle die nicht mit dem ICE
weiterfahren können, nehmen wir mit hoch in die Flüchtlingszuflucht. Es
sind insgesamt neun Menschen die mitkommen und mit Essen,Trinken und
Schlafplätzen versorgt werden. Davon fünf junge iranische Studenten, die in
Schweden weiterstudieren wollen. Sie sind so dünn angezogen, daß wir
sie bitten, sich wärmere Kleidung mitzunehmen. Ein Helfer macht sich nun auf den Weg, drei der am Bahnhof Gestrandeten per Auto in ein 20 km entferntes Dorf zu bringen.
Es kehrt Ruhe ein. Alle haben gegessen, getrunken, schlafen oder unterhalten sich leise.
Wir waschen ab und fangen an aufzuräumen.
Gegen 3.30 Uhr entdecken wir auf dem Bahnsteig zwei frierende
"reguläre"Reisende. Die Frau, die den früheren Zug verpasst hatte, kommt
zum Aufwärmen mit zu uns. Der Mann wartet lieber draußen.
7 Uhr. Alle Betten sind ab- und wieder frisch bezogen. Die ersten drei Maschinen Wäsche sind durchgelaufen. Die beiden Trockner brummen pausenlos. Ich werde mich langsam auf den Weg zur Arbeit machen.
Apropos: Danke an alle, die in den Nachtschichten vor Ort helfen. Die durch Geldspenden ermöglichen, daß wir Essen, Trinken, Waschmittel und Unterwäsche anbieten können.
Wir brauchen weiter fröhliche HelferInnen, die sich mal ne Nacht mit uns um die Ohren hauen und Flüchtlinge in der Flüchtlingszuflucht Hundertwasserbahnhof Uelzen betreuen.Foto / Joost Rot: Dieses Baby schlief tief und fest, während seine Eltern sich in der Bahnhofszuflucht mit dem Nötigsten versorgten, bevor sie den nächsten Zug Richtung Irgendwo nahmen.