Tagelang hatten sie unter widrigsten Umständen auf dem Budapester Bahnhof ausgeharrt, um einen Zug Richtung Westen besteigen zu können. Zuletzt machten sie sich zu Fuß auf den Weg. Am Sonntag sind rund 500 Flüchtlinge nach einer tagelangen Odyssee in der Lüchower Polizeikaserne angekommen.
Im Eiltempo hatten es die Johanniter
Unfallhilfe, die zentrale Polizeidirektion Niedersachsen, DRK, ASB
sowie das THW und die Kreisbereitschaft der freiwilligen Feuerwehren
in einem gemeinsamen Kraftakt geschafft, die Polizeikaserne in Lüchow
für die Aufnahme so vorzubereiten, dass die Flüchtlinge „in Ruhe
ankommen können“, wie es Karsten Wolff, Sprecher der ZPD
Niedersachsen am Sonntag Mittag in einem Pressegespräch ausdrückte. "Sie sollen jetzt erst einmal zur Ruhe kommen, sich entspannen und mit dem Nötigsten versorgt werden," erläuterte Wolff das Anliegen aller Organisationen. Ausdrücklich betonte der Polizeisprecher, dass es sich hier nicht um eine Einsatzlage, sondern um einen Hilfseinsatz handle.
Deswegen werden sich auch die vielen Polizisten, die sich derzeit noch zur Einweisung und zum Schutz der Flüchtlinge auf dem Gelände befinden, in den nächsten Tagen zurückziehen, um den Flüchtlingen das Gefühl zu nehmen, sich in Polizeigewahrsam zu befinden. Ganze 18 Stunden hatten die
Hilfsorganisationen Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen.
Erst Samstag Morgen war der Auftrag aus dem Innenministerium an die
ZPD erteilt worden, die Polizeikaserne sofort für die Aufnahme von
Flüchtlingen vorzubereiten und nicht erst bis Ende nächster Woche
wie ursprünglich geplant. Die Situation in Budapest hatte
ultraschnelles Handeln erfordert.
Erst einmal mit dem Nötigsten versorgen
Kaum hatte sich die Nachricht in Lüchow-Dannenberg herumgesprochen, waren auch schon die ersten Freiwilligen vor Ort, um ihre Hilfe anzubieten. Auch Flüchtlinge, die schon länger im Landkreis leben und inzwischen relativ gute Deutschkenntnisse haben, hatten sich spontan bereit erklärt, als Dolmetscher zur Verfügung zu stehen. Große Sonnenblumen und Luftballons mit Willkommenssprüchen signalisierten den Ankömmlingen, dass sie hier freundlich aufgenommen werden.
In der Polizeikaserne, die zu anderen
Zeiten für die Unterbringung von Bereitschaftspolizisten beim
Castortransport wurde und seitdem für Fortbildungsseminare genutzt
wird, stehen für die Flüchtlinge jeweils 4-Bett-Zimmer in festen
Gebäuden bereit. Mit 4 Duschen pro Etage (rund 40 Personen) sowie
diversen Toiletten und Waschbecken scheint auch die sanitäre
Versorgung für eine Notunterkunft zunächst ausreichend.
Die Plätze zwischen den Polizeigebäuden sind angefüllt mit Einsatzfahrzeugen von Johanniter, DRK und anderen Hilfsorganisationen. Verpflegungsstände sind aufgebaut und Zelte, in denen gegessen werden kann. An anderer Stelle werden Kleidung und andere Ausstattungsgegenstände wie Decken oder Kinderbetten ausgegeben - Die Polizeikaserne ist innerhalb kürzester Zeit zu einem Flüchtlingslager geworden.
Ganze 18 Stunden bis zum Einzug
„Unser Hauptbestreben ist es nun zunächst, die Flüchtlinge zur Ruhe kommen zu lassen, sie ärztlich zu versorgen und mit dem Notwendigsten auszustatten,“ betonte auch Hans-Joachim Halbach, vom Regionalvorstand der Johanniter-Unfallhilfe, die Einrichtung und Betrieb der Notunterkunft übernommen hat. Bis Freitag waren die Johanniter noch in Hannover beschäftigt, wo sie ebenfalls eine Polizeiunterkunft herrichteten, bevor sie nach Lüchow kamen.
Ausdrücklich betonten alle Vertreter
der beteiligten Organisationen, dass es sich in Lüchow lediglich um
eine Notunterkunft handelt, nicht um eine Erstaufnahmeeinrichtung.
Unklar blieb allerdings zunächst, ob die Flüchtlinge zu ihrer
Registrierung als Asylsuchende nach Braunschweig fahren müssen oder
ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Mitarbeiter nach
Lüchow schickt, um die ersten Gespräche vor Ort zu führen. Unklar
blieb auch, wie lange die einzelnen Flüchtlinge in Lüchow werden
bleiben müssen, bevor sie an die Kommunen weitervermittelt werden.
Angesichts der in den Erstaufnahmeeinrichtungen herrschenden permanenten Überfüllung, gehen die Verantwortlichen grundsätzlich davon aus, dass die Notunterkunft in Lüchow voraussichtlich über Herbst und Winter Bestand haben wird. Die Frage nach einer Erstaufnahmeeinrichtung in Neu Tramm konnte auch an diesem Sonntag nicht beantwortet werden. „Die Verhandlungen sind auf einem guten Weg,“ hieß es lediglich vom 1. Kreisrat, Claudius Teske, der es sich nicht nehmen ließ, ausdrücklich zu betonen, dass es für den Landkreis selbstverständlich ist, zu helfen. „Die aktuelle Lage ist ein Aufruf an Solidarität und Humanität,“ so Teske. Auch der Landkreis unterstützt die Organisatoren der Notunterkunft mit Personal. „Da wird alles hochgefahren, was hochfahrbar ist,“ so Teske.
Sichtlich stolz, aber auch „zutiefst berührt“ zeigte sich ZPD-Sprecher Wolff, dass die Zusammenarbeit der verschiedenen Organisationen und Behörden trotz der extrem knappen Zeit so reibungslos funktioniert. Als der Zug mit den Flüchtlingen am frühen Sonntag Morgen in Braunschweig ankam, standen die Busse schon bereit, um sie nach Lüchow zu bringen. Auch in der Kaserne warteten bereits Ärzte und die erste Grundversorgung mit Essen und Trinken stand auch bereit.
Mit vollem Einsatz für die Flüchtlinge
Nach dem ersten Eindruck von Koordinator Hans-Joachim Halbach, sind die meisten Flüchtlinge in einem guten gesundheitlichen Zustand, wenn auch einige Akutfälle behandelt werden mussten. Da die Flüchtlinge aber auch lange im Freien ausharren mussten und kaum mit Jacken ausgestattet waren, grassieren Erkältungskrankheiten.
„Wir brauchen sicher noch ein bis zwei Tage, bis wir zum Regelbetrieb übergehen können,“ prognostizierte Halbach. Bis dahin sind alle Helfer der verschiedenen Organisationen rund um die Uhr damit beschäftigt, alle Ankömmlinge ihre Zimmer zuzuweisen, sie ärztlich zu untersuchen und die wichtigsten Bedürfnisse wie Essen und Trinken bereit zu stellen sowie Sanitärartikel zu verteilen.
Freiwillige Helfer werden weiter gebraucht
Dolmetscher informierten die Flüchtlinge über die wichtigsten Eckdaten, wo sie sind, wie jetzt das weitere Verfahren ist und wo sie welche Ansprechpartner finden. Nach einer ersten Registrierung, bei der sie auch sogenannte „Hausausweise“ erhalten, können die Flüchtlinge die Kaserne nach Belieben verlassen und sich selbst einen Eindruck ihrer neuen Umgebung verschaffen. In Lüchow soll nach Auskunft von Halbach ein Infowagen aufgestellt werden, so dass die Flüchtlinge dort auch Hilfe bekommen, falls sie sich im Ort nicht zurecht oder den Weg in die Kaserne zurück nicht finden.
Freiwillige Helfer, die auf dem Gelände ansprechbar waren, zeigten sich nach einem ersten Eindruck durchaus zufrieden mit Ausstattung und Organisation der Notunterkunft.
Mehrere Dutzend von ihnen waren bereits am Sonntag auf dem Gelände tätig. Doch das wird auf Dauer nicht reichen. Die Helfer von THW, DRK, ASB und Feuerwehr sind größtenteils ebenfalls ehrenamtliche Helfer, die unter der Woche ihren Berufen nachgehen müssen. Außerdem sind viele von ihnen an der Grenze der Erschöpfung angelangt. „Wir brauchen auf jeden Fall noch viele Helfer, die bei ganz konkreten Aufgaben wie der Essensverteilung helfen,“ plädierte Halbach an die Bürger Lüchow-Dannenbergs gewandt. Dabei gehe es zunächst um „Manpower“, wie Halbach es ausdrückte: stundenweise Hilfseinsätze, Verteilung von Essen, Ausgabe von Kleidung etc. etc. Um diese externe Hilfe aber gezielt koordinieren zu können, sollen sich die Hilfewilligen bitte an die kostenlose Zentralnummer 0800 00 19 214 wenden und ihre Hilfsangebote dort hinterlassen. „Von dort aus werden die HelferInnen dann koordiniert.“
Von Sachspenden bittet Halbach im
Moment noch abzusehen, bis „wir uns einen Überblick verschafft
haben“. Die wichtigsten Dinge wie Betten, Decken und ein
Grundbestand an Kleidung sind in Lüchow bereits vorhanden. Die
Johanniter kündigen für die nächsten Tage eine öffentliche
Information, welche Dinge noch benötigt werden.
Harms: Europäischen Streit nicht auf dem Rücken der Flüchtlinge austragen
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, hatte sich vergangene Woche selbst einen Eindruck von den erschütternden Verhältnissen am Budapester Bahnhof verschafft. Deshalb begrüßt sie jetzt die Entscheidung Niedersachsens, 700 Flüchtlinge, die über Budapest gekommen sind, aufzunehmen.
"Die Situation am
Bahnhof Keleti und anderen Orten in Budapest, an denen sich
zumeist syrische Bürgerkriegsflüchtlinge
sammelten, war absolut unerträglich, auch wenn
Freiwilligenorganisationen bewundernswert gearbeitet haben.
Es gab kaum Toiletten oder fließendes Wasser.
Öffentliche Brunnen waren absichtlich stillgelegt. Die
Versorgung mit Trinkwasser und Nahrung und auch die Hilfe
für kranke und von der Flucht erschöpfte oder
verletzte Menschen wurden von Bürgerinitiativen
geleistet," berichtet Rebecca Harms über die Zustände am Budapester Bahnhof.
"Es ist gut, dass durch die Entscheidungen zur Aufnahme in Deutschland und einigen anderen EU-Ländern diesem Elend zunächst ein Ende gesetzt wird. Der politische Streit mit Viktor Orban und die Auseinandersetzung um die zukünftige gemeinsame Europäische Flüchtlingspolitik dürfen nicht auf dem Rücken derjenigen ausgetragen werden, die jetzt in Ungarn gestrandet sind.
Es ist richtig und
unvermeidbar, dass jetzt auch Unterkünfte wie die
Polizeikaserne in Lüchow genutzt werden, um den
Menschen zunächst ein Dach über dem Kopf zu geben.
Es ist gut, dass in Lüneburg und Lüchow so rasch
alles vorbereitet wurde. Ich bin gerade nach meinen
erschütternden Begegnungen in Budapest froh, dass in
auch meiner Heimat so Hilfe geleistet werden
kann," so Harms weiter.
Ihre Aufgabe in der Politik bleibe es, über die akute Hilfe hinaus zu denken
und zu handeln. "Diejenigen, die bei uns Sicherheit suchen,
dürfen nicht am Rande bleiben. Wir müssen rasch
klären, was über die Versorgung hinaus geleistet
werden muss," so Harms über ihr Engagement im EU-Parlament.
Fotos Lüchow / Angelika Blank: mit Sonnenblumen und Willkommenssprüchen auf bunten Luftballons begrüßten Lüchow-Dannenberg die aus angereisten Flüchtlinge.
Fotos Budapest / Rebecca Harms: Abgestellte Brunnen waren nur ein Teil der ungarischen Ignoranz gegenüber frierenden und hungernden Flüchtlingen