Thema: flüchtlinge

Heiligabend in der Notunterkunft Woltersdorf

Mit einem rauschenden Fest feierten die Flüchtlinge in der Notunterkunft Woltersdorf Weihnachten - und vor allem das Glück, am Leben zu sein. 

Technomusik schallt über das weitläufige Gelände der Notunterkunft in Woltersdorf. So ist der Weg zum Festsaal nicht zu verfehlen. Um mich herum strömen Menschen der verschiedensten Hautfarben und Größen in die gleiche Richtung: hinauf in den großen Saal im Hauptgebäude.

Dort sind schon rund 200 Menschen versammelt, harren in dem hell ausgeleuchteten Raum auf die Ereignisse, die da kommen sollen. Kinder toben durch den Saal. Ihr größter Spaß sind die unzähligen Luftballons, die auf der improvisierten Bühne verteilt sind.

Irritierend die Anwesenheit der gelb bejackten Sicherheitsleute. Sie mischen sich zwar wie selbstverständlich unter die Gäste, plaudern hier und gestikulieren da. Aber sie sind eben doch Sicherheitsleute. In mir streiten sich die Gefühle. Einerseits finde ich ihre Anwesenheit ernüchternd, andererseits bin ich froh, dass sie da sind. Denn mir ist durchaus bewusst, dass dieses Fest trotz aller Begeisterung und allen Eifers, Weihnachten zu einer riesengroßen Party zu machen, auch anders ausgehen kann.

Schon in einheimischen Familien ist der hohe Druck, den Heiligen Abend positiv zu gestalten, so gewaltig, dass es immer wieder zu Streitigkeiten kommt. Wie hoch muss die Anspannung aber in einer Unterkunft sein, in der mehrere hundert Menschen verschiedenster Nationalitäten leben, die teilweise traumatisierende Erlebnisse hinter sich haben - und deren Familien nicht entspannt Weihnachten feiern können, sondern den nächsten Bombenangriff oder die nächste Terrorattacke befürchten müssen.

Eine große Party mit Tänzen und Theater

Doch der Wille, gemeinsam ein großes Fest zu feiern, scheint übermächtig. Gleich am Eingang sind zwei große Pappkathedralen aufgebaut - komplizierte Aufbauten mit  Fenstern, unzähligen Türmchen und von innen wie außen mit Lichterketten beleuchtet. Liebevoll sind sie mit Gold verziert und stehen einträchtig nebeneinander. Ein Bild wie eine Mahnung: auf der einen Kathedrale prangen Kreuze, auf der anderen Halbmonde.

Kaum bemerken die Umstehenden mein Interesse an der Pappkonstruktion, bin ich umringt von Flüchtlingen, die mir eifrig erklären wollen, was diese bedeutet. "Muslim und Kirche - in eins", erklärt mir freudestrahlend einer der Erbauer. Tagelang hatten er und zwei weitere Flüchtlinge an dieser Installation gearbeitet, ein Herzenswunsch war es ihnen, die mögliche Einträchtigkeit der beiden Weltreligionen zumindest zu symbolisieren - wenn sie in der Realität schon kaum erreichbar scheint. Diese Botschaft verstehe ich auch, ohne ihre Worte zu verstehen.

Dann geht das Festprogramm los. Der Moderator hat sich für Englisch entschieden, auch wenn er genau weiß, dass viele seine Worte nicht verstehen werden. Im Raum befinden sich Menschen aus mindestens neun so unterschiedlichen Ländern wie Somalia und Afghanistan, Albanien, Syrien und Pakistan. Wie da eine gemeinsame Sprache finden?

Auch ich verstehe fast nichts, die Lautsprecher reichen nicht aus, um das Stimmgewirr zu durchdringen. Nur einzelne Bruchstücke wie "wir sind alle Menschen" und "lasst uns gemeinsam feiern" dringen durch. Aber der laute Jubel über die Ansprache zeigt mir: Sprachkenntnis spielt keine Rolle, die Botschaft kommt offenbar an.

Und als eine Gruppe Kinder mit Deutschland- und anderen Nationalflaggen die Bühne erklimmt, ist der Applaus groß. Im Hintergrund hält ein Mann ein Foto von Angela Merkel hoch, während die Kinder ein kleines Flaggenballett inszenieren. Diese Botschaft ist klar: wir danken Deutschland, dass wir hier sein können und wollen gemeinsames ein buntes Land gestalten.

Babylonisches Weihnachten

Jede Darbietung, egal von welcher Landsgruppe sie gestaltet ist, wird jubelnd beklatscht. Dutzende Smartphones nehmen jede Szene, jeden Tanz des Programms auf. Besonders die Auftritte der Kinder sind ein beliebtes Objekt der Video-Begierde.

Eine seltsame Mischung ist das Programm. Breakdance-Auftritte von Teenies zu Technoklängen wechseln sich ab mit traditionellen Tänzen der erwachsenen Männer. Bei der Gestaltung wurde offenbar darauf geachtet, dass möglichst viele Landsgruppen sich mit einem Programbeitrag beteiligen. So entstand ein Kaleidoskop der unterschiedlichsten Kulturen - nicht immer verständlich wie ein Teil der Sketche.

Wie zum Beispiel dieser: Ein seltsam gekleideter Mann mit dicker Plastikkette erschießt einen Mann. Er bleibt reglos auf der Bühne liegen. Ein (kurzerhand in das Stück eingebaute) Sicherheitsmann wird zur Hilfe gerufen, unternimmt aber nichts, außer ein wenig mit seinen Handschellen zu klappern. Dann kommt ein Putzmann und wischt um den Toten herum. Der Sicherheitsmann weist ihn weg, woraufhin einige andere Männer kommen und den Toten von der Bühne ziehen. Wie gesagt: mir erschloss sich dieser Sketch nicht - die umstehenden Männer jedoch amüsierten sich köstlich.

Ein anderer Sketch, dargeboten von zwei Pakistani, ist schon leichter zu verstehen: ein König wird von einem demütigen, ärmlich Gekleideten verfolgt. Der König nötigt den Demütigen zum Kleiderwechsel. Doch selbst das nützt nichts: der flugs zum König Umfunktionierte will einfach seinen Thron nicht besteigen und bleibt jammernd auf der Tischkante sitzen.

Umso verständlicher dagegen die "Reise nach Jerusalem", einem altbekannten Kinderspiel. Es stellt sich heraus, dass dieses Spiel um leere Stühle auch im arabischen Raum zu den bekannten Kinderspielen gehört. Und auch die Tricks sind die gleichen: während die Mädchen es mit eleganter Schnelligkeit versuchen, kommen die Jungs auf die Idee, den letzten verbliebenen Stuhl hinter sich her zu ziehen - ein vergebliches Unterfangen, wie sich zum Schluss herausstellt.

Viel Selbstironie beweist der "Tanz der Irren", der in einem wüsten Chaos endet. Nach den Auftritten der Kinder übernehmen hauptsächlich Männer die Bühne. Man spürt ihnen die Begeisterung an, ihre traditionellen Tänze tanzen zu dürfen. Manch einer lässt sich agitieren und mischt sich spontan unter die Tanzenden. Andere werden aus den letzten Reihen geholt, um die Tanzgruppe auf der Bühne zu verstärken.

Feiern bis das Konfetti fliegt

Eine flirrende Unruhe liegt im Raum - eine wilde Mischung aus Begeisterung, Spielfreude und Nervösität. Irgendwann rennt einer der Sicherheitsleute los, Unruhe kommt auf. Mehrere Dutzend Männer verlassen hinter ihm den Saal. Mir ist gleich klar: das bedeutet nichts Gutes. Außerhalb des Saales hatte es wohl Streit gegeben - jemand hatte sich betrunken, sich mit jemandem angelegt, wobei auch ein aus dem Fenster geworfener Mülleimer eine Rolle spielte. 

Für einen Moment war die trübe Realität in den Festsaal eingebrochen. Doch nach wenigen Minuten Anspannung kehren alle Männer inklusive Sicherheitskräften wieder zurück und im Saal ist ein erleichtertes Aufatmen zu spüren. Die Feier muss nicht abgebrochen werden.

Die Tanzwut der Männer hat inzwischen noch mehr zugenommen. Zu eindringlichen afghanischen Klängen tanzen einige Männer einen traditionellen Tanz, der mit seinen drehenden Bewegungen an Riten der Sufi erinnert. Ob die Männer wirklich dem Sufismus, einer spirituellen Gruppe innerhalb des Islam, anhängen, bleibt mir im Dunkeln. In der Aufgeregtheit des Abends ist es unmöglich, hierzu Näheres zu erfahren.

Doch ich tröste mich mit dem Gedanken, dass viele der anderen Zuschauer, Syrer, Albaner, Somalier und, und ... genauso wenig wissen, welchen Hintergrund diese Tänze haben. Als Deutsche gehöre ich an diesem Abend in diesem Saal eben auch nur einer Nationalität unter vielen an.

Am Ende des Abends sind Herkunft oder Alter sowieso egal: unter anhaltendem Konfettiregen stürmen weitere tanzwütige Männer die Bühne und der Abend geht mit Begeisterungsstürmen zu Ende. Die Extraportionen Cola und Limo an der Ausgabe sind da nur noch ein kleines Bonbon.

Fotos / Angelika Blank: Ausgelassene Fröhlichkeit herrschte beim Weihnachtsfest in der Notunterkunft Woltersdorf






Fotos

2015-12-25 ; von Angelika Blank (autor),
in Woltersdorf, Deutschland

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