Jahrelang arbeitete Stephan von Welck aus Grabow für die Deutsche Botschaft in Indien. Dort nahmen er und seine Frau Ranjita als Pflegetochter an, die bereits als Kind ihre Eltern verloren hatte und in Neu-Delhi in bitterster Armut leben musste. Nun besuchte die inzwischen Erwachsene ihre Pflegeeltern in Grabow.
Die Freude strahlt aus ihrem Gesicht, als sie die fern-indischen Querflötenklänge hört. Die junge Frau trägt einen schwarzen Punjabi-Suit, der mit Blumen und kunstvollen Mustern versehen ist. Auf dem Tisch vor ihr stehen Weihnachtsplätzchen und Tee. Eine Mischung aus Darjeeling-Tee und indischen Räucherstäbchen durchzieht das große Wohnzimmer im Haus von Ina und Stephan von Welck. Ranjita hat die Gerüche aus ihrer Heimat mit nach Deutschland gebracht, um ihre Pflegeeltern an die gemeinsame Zeit in Indien zu erinnern. Ranjita Thapa ist seit vielen Jahren Waisenkind. Sie lebt jetzt in Khairabat, einer Kleinstadt im Staat Uttar Pradesh in Nordindien. Die heute 25-jährige Frau ist dort Krankenschwester.
Ihr scheinbar unabwendbares Schicksal, als Waisenkind in bitterer Armut auf den Straßen Delhis leben zu müssen, änderte sich, als Ranjita 1995 Ina und Stephan von Welck aus Grabow begegnete, die das etwa 10-jährige Kind als ihr „foster-child“ in ihr Haus aufnahmen.
Beide lebten damals in Neu-Delhi, wo Stephan von Welck in der Deutschen Botschaft arbeitete. Er erinnert sich noch heute an tägliche Spaziergänge mit dem Hund in einem Park hinter ihrem Haus, in dem Ranjita und andere Straßenkinder manchmal spielten.
Überleben durch die Arbeit der Kinder
Das Entsetzen spiegelt sich noch heute in Ina von Welcks ganzer Körperhaltung wider. Ihre Schultern ziehen sich zusammen und ihr Blick wandert gen Boden, wenn sie an die Zeit zurückdenkt. „Solche Armut wie dort habe ich noch nie gesehen“, sagt sie. „Wir mussten irgend etwas tun“. Über Monate bauten sie ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern im Park auf, lernten Ranjita näher kennen erfuhren vom frühen Tod von Ranjitas Eltern.
Die damals 10-Jährige erinnerte sich nicht mehr daran, wann ihre Eltern gestorben sind. Doch von dem Zeitpunkt an musste sich das Kind allein durchschlagen, bis ein Onkel sie nach Delhi holte, damit sie dessen neugeborene Tochter betreute und sich um seinen Haushalt kümmerte. Dabei hatte Ranjita noch Glück im Unglück: Häufig werden Kinder armer Eltern zur Kinderarbeit gezwungen, denn etwa 300 Millionen Inder leben in absoluter Armut von weniger als einem US-Dollar pro Tag. Sie sind auf die Arbeit ihrer Kinder angewiesen, um überleben zu können.
Ohne die Unterstützung ihrer Pflegeeltern Ina und Stephan von Welck hätte auch Ranjita ein solches Leben führen müssen. „Als wir unsere Ranji 1995 zu uns nahmen, sprach sie weder Hindi noch Englisch, denn Ranjitas Muttersprache ist Nepali. Denn ihre Vorfahren sind als billige Arbeitskräfte auf britischen Teeplantagen aus Nepal eingewandert“. Ohne ausreichende Sprachkenntnisse hatte sie keine Chance zur Schule zu gehen und einen Beruf zu erlernen, der ihr genug Geld zum Überleben einbringt. Auch die Armutsprogramme der indischen Regierung können längst nicht allen Mittellosen helfen, zumal die Staatsverschuldung trotz hohem Wirtschaftswachstum ins Unermessliche gestiegen ist.
Keine Bildung ohne Geld
Ihre Pflegeeltern berichten, wie sie alles daran gesetzt haben, das Mädchen in die Schule zu bekommen: „Wir haben für sie Privatlehrer in Hindu und Englisch engagiert, denn ohne Kenntnis beider Sprachen wäre ihre Schulausbildung an einer höheren Schule nicht möglich gewesen.“ Durch die Beziehungen ihres Pflegevaters war es Ranjita möglich, auf eine englischsprachige, christliche Schule zu gehen.
Ansonsten sind die Bildungsvoraussetzungen in Indien schlecht: Aufgrund der geringen Bildungsausgaben des Staates müssen die Schüler all ihre Lehrmaterialien selbst bezahlen, was für viele unmöglich ist. Deswegen sind viele Eltern der Meinung, die Kinder sollen lieber arbeiten, als sinnlos herum zu sitzen. Sie halten Bildung für unrentabel und sehen die geringe Qualität der Bildung durch ein zu hohes Lehrer-Schüler-Verhältnis, weshalb die Analphabetenquote bei etwa 35 Prozent liegt.
Ranjita gehört zur christlichen Minderheit in dem hinduistisch geprägten Land. An ihrer englischsprachigen, christlichen Schule hat es auch einen Christbaum gegeben wie hier in Deutschland, berichtet sie. Über Weihnachten und Neujahr, zum Fest der Familie, haben von Welcks das Mädchen nach Deutschland eingeladen. „Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Schnee gesehen“, berichtet die junge Frau. „Ich habe mich gefühlt wie im Himmel.“
Ranjita fühlt sich in Deutschland sehr wohl, sagt sie, denn die Leute sind freundlich und zuverlässig. Außerdem fühle sie sich hier, im kleinen idyllischen Grabow, sicher.
Bevor Ranjita nach Deutschland gekommen ist, hat das Ehepaar die junge Frau einmal pro Jahr in Indien besucht und ansonsten über Briefe oder Telefonate in die Schule Kontakt gehalten.
Für ihre Leidenschaft, den indischen Tanz, hat "Ranji", wie ihre Pflegeeltern sie nennen, heute keine Zeit mehr. An diese Zeit erinnern noch farbenfrohe Bilder in Ina von Welcks Fotoalbum aus ihrer indischen Zeit.
Arbeit als Krankenschwester - und trotzdem kaum genug zum Leben
Wieder zurück in Indien wird harte Arbeit Ranjitas Alltag bestimmen. In einem großen Krankenhaus, das von einem christlichen Orden geführt wird, macht sie derzeit eine Ausbildung zur Krankenschwester. Die häufigsten Krankheiten, die sie dort behandelt sind Gelbsucht, Meningitis, Tuberkulose, aber auch Knochenbrüche und Wunden von Schlangenbissen, die oft von unzähligen Maden übersäht sind.
Die Gesundheitsausgaben des Staates Indien sind gering - nicht mal ein Prozent des Bruttoinlandprodukts werden für Gesundheit ausgegeben, wobei Krankenhäuser in Städten mehr bezuschusst werden als ländliche Krankenhäuser.
Als jetzt noch Auszubildende verdient Ranjita in ihrem Krankenhaus umgerechnet etwa 50 Euro im Monat und muss davon noch 30 Euro für die Verpflegung im Krankenhaus abgeben. Ihr bleiben also lediglich 20 Euro, von denen sie leben soll. Die Traurigkeit spricht aus ihrem Gesicht, doch sie gibt nicht auf: „Wenn ich in einem Jahr meine Ausbildung abgeschlossen habe, werde ich versuchen, eine Anstellung in einem Krankenhaus zu bekommen, wo ich soviel verdiene, dass ich von meinem Lohn leben kann.“ Doch ihr Weg dahin ist noch steinig.
Ranjita lächelt, denn sie ist dankbar für die Hilfe von Ina und Stephan von Welck, die für sie Vater und Mutter oder wie sie sagt „Baba“ und „Ama“ geworden sind und die ihr das Schicksal eines Lebens in bitterer Armut erspart haben.
Foto: Anna Lisa Oehlmann / Mit ihren Pflegeeltern Ina und Stephan von Welck feierte Ranjita aus Indien das erste Mal ein Weihnachtsfest nach westlicher Tradition.