Interview: Die Welt ist keine Scheibe

Auszüge aus einem Interview von Uta Müller mit Lucie Veith vom 1. April 2011

In Deutschland leben rund 100 000 Menschen, deren körperliche Merkmale eine eindeutige Zuordnung Mädchen oder Junge beziehungsweise Frau oder Mann unmöglich machen. Sie werden als Intersexuelle bezeichnet oder als Hermaphroditen und Zwitter. Viele intersexuell geborene Menschen haben keine Chance, in ihren gesunden Körpern zu leben, obwohl täglich ein solches Kind geboren wird.

In Dannenberg gab es vor einigen Monaten eine Veranstaltung „Intersexualität – Menschen zwischen zwei Geschlechtern“ mit Lucie Veith vom Verein Intersexuelle Menschen. In einem Interview sagte Lucie Veith: „Es gibt mehrere zehntausend Menschen, die in Deutschland herumlaufen, die denken, sie seien Männer oder Frauen. Sind es aber gar nicht, weil sie als Kind zurechtgebastelt worden, genitalverstümmelt und häufig kastriert sind. 85 Prozent dieser Menschen wurden zu Frauen gemacht, also weiblich zugewiesen. ... Ich glaube, daß an unseren Schulen eine Unwahrheit erzählt wird. Wir intersexuellen Menschen sind doch der Beweis, wir sind doch. Wie kann man behaupten, daß es nur Männer und Frauen gibt? ...

Ich behaupte, das mit dem Menschengeschlecht ist wie mit der Weltkugel. Eine große Kugel, die zwei Pole hat, einen männlichen und einen weiblichen. An den Polen lebt keiner, da ist es viel zu kalt. Aber auf den Landmassen zwischen den Polen leben ganz viele Menschen und keiner ist besser oder schlechter. Das ist Menschengeschlecht. Die Welt ist keine Scheibe, auf der einen Seite Männer, auf der anderen Seite Frauen. ... Die Einteilung in Schubladen führt nur dazu, daß man Menschen unterdrücken kann. Wem dient das denn? Doch nur der Industrie. Also hat sie kein Interesse daran, daß wir das System aufweichen. Alle, die daran verdienen, haben kein Interesse daran, daß wir es über den Haufen schmeißen. Wir sollten es trotzdem tun. Weil wir zu einer menschlichen Gesellschaft kommen wollen. Wenn wir jedem Menschen den gleichen Respekt verschaffen wollen, dann geht das gar nicht anders.

Geschlecht ist nichts Starres. Geschlechtlichkeit ist etwas sehr Individuelles. Und zwei Schubladen sind dafür viel zu wenig. Wir sind in diesem Prozeß der Auflösung. Und vor intersexuellen Menschen muß niemand Angst haben, weil wir im Grunde genommen genau diejenigen sind, die dieses ganze System dieses Unrechtssystems knacken können. ... Und wir intersexuellen Menschen sind der Beweis, daß XY-Chromosomen dich nicht automatisch zum Mann machen. Und XX-Chromosomen dich nicht automatisch zur Frau machen. ... Ich habe XY-Chromosomen und hatte Gonaden, also männliche Hoden. Ich habe eine Androgenresistenz, das heißt, daß die Androgene, die männlichen Hormone, in meiner Haut nicht wirken können. In meinem Gehirn ja, aber nicht in meinem äußeren. Und ich habe ein äußerlich weiblich aussehendes Genital. Ich habe eine weibliche Sozialisierung. Ich habe ein Erziehungsgeschlecht, das weiblich war. Einen weiblichen Personenstand. Man nimmt mich weiblich wahr.

Der Personenstand ist die Geschlechterzuordnung in Deutschland. Das ist nichts als ein Stück Papier. Daß mehr daraus gemacht wird, dient eigentlich allein dazu, daß eine Gruppe die andere schlechter bezahlt und unterdrücken kann. Man kann mit diesem Papier auch hübsche Dinge basteln…“




2011-07-15 ; von ZERO (autor),

 

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