Thema: gewalt

Prof. Christian Pfeiffer: Macht die Schulen zu Bürgerzentren

w-net: Herr Prof. Pfeiffer, Mordbeteiligung von 14-/15-jährigen Mädchen, Brandstiftungen durch Jugendliche. Ist die Jugend dabei, zur gesellschaftlichen Gefahr zu werden?

Prof. Pfeiffer: Dass Mädchen an einer Gewalttat, gar an einem Mord beteiligt sind, ist absolut atypisch. Mädchen sind in verschwindend geringem Anteil an derartigen Gewalttaten beteiligt. Insgesamt haben Tötungsdelikte und Raubtaten, begangen durch Jugendliche seit Mitte der 90er Jahre um 1/5 abgenommen. Körperverletzungen untereinander sind dagegen deutlich angestiegen. 

w-net: Können Sie Ursachen orten, warum Jugendliche immer wieder ausrasten, Anderen Leid zufügen bzw. ohne Motiv massive Sachschäden anrichten?

Prof. Pfeiffer: Besonders da, wo die Winner-Loser-Kultur ausgeprägt ist, wo die Jugendlichen für sich keine Chance mehr sehen, da sind sie frustriert. Familien spielen dabei leider zunehmend eine belastende Rolle. Es gibt immer mehr Familien, die auseinanderbrechen, die mit Alkoholismus  oder Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Das Gewaltschutz-Gesetz trägt zwar dazu bei, dass Gewalt in der Familie nicht mehr so häufig vorkommt. Aber die Jugendarmut steigt leider an.

Ein weiterer Faktor, der in der Öffentlichkeit unterschätzt wird, ist die negative Rolle der Gewaltmedien. Kürzlich hat die Universität Tübingen in einer Längsschnitt-Studie festgestellt, dass ausgiebiges Spielen von Computerspielen die Machokultur fördert sowie die Akzeptanz von Männlichkweitswerten wie Kampfbereitschaft oder Sich-nichts-gefallen-lassen. 

Experimentalforschungen zeigen, dass, wer sich immer wieder in die Rolle des aktiven kämpfenden, tötenden Kämpfers begibt, in sich die Sensibilität für das Töten, das Leiden verschaffen abtötet. Normalerweise gibt es beim Anschauen gewalttätiger Szenen starke Gehirnstromaktivitäten in dem Teil des Gehirns, wo das Mitleid angesiedelt ist. Bei  intensiven Computerspielern zeigt sich, dass deren Reaktionen auf Filme mit Szenen realer Gewalt sehr viel schwächer sind. Durch ausdauerndes Spielen von Gewaltspielen finden im Gehirn systematische Abstumpfungsprozesse statt.

Dabei ist mir wichtig, zu betonen, dass Computerspielen alleine nicht der Auslöser für reale Gewalttaten ist. Gut integrierte Jugendliche, die aktiv in soziale Zusammenhänge eingebunden sind, sind hier nicht sonderlich anfällig. In Verbindung mit anderen Belastungsfaktoren allerdings  erhöhen Gewaltspiele das Risiko realer Gewalttaten beträchtlich. Wenn es in der Familie nicht stimmt, die Jugendlichen in Schule oder Freizeit keine Erfolgserlebnisse haben, sie keine Zukunftsperspektiven haben können, setzt sich Frustration durch. In gewalttätigen Computerspielen haben sie (vermeintlich) gelernt, dass sie Konflikte auf simple, gewalttätige Art lösen können. Wenn sie in der Realität nicht zum Ziel kommen können, rasten sie dann eher aus, begehen sinnlose Gewalttaten. 

Wir können beobachten, dass vor allem außerhalb der Schulen der Respekt voreinander, die Sensibilität für das Leiden anderer abnimmt. Dagegen sind die Schulen insgesamt ein sehr gut kontrollierter Raum, hier nehmen die Vorfälle seit einiger Zeit ab.

w-net: Gibt es dafür Gründe?

Prof. Pfeiffer:
Ja, es hat an den Schulen zwei Verbesserungen gegeben. Zunächst hat die Polizei jetzt Zugang zu den Schulen. Schulleiter arbeiten enger mit der Polizei zusammen, Polizisten können an Konferenzen teilnehmen oder auch direkt an der Schule beraten. Seitdem hat sich die Anzeigebereitschaft der Opfer deutlich erhöht - auch außerhalb der Schule. Mit der Folge, daß die Täter ein viel höheres Risiko haben, wegen ihrer Taten richtig Ärger zu bekommen. Zudem hat sich die Kultur des Hinschauens an den Schulen sehr verbessert. 

w-net:
Wirklich? Man hört doch aber immer noch viel von Problemen an den Schulen?

Prof. Pfeiffer: Da wird es sich meistens um Hauptschulen handeln. Denn hier hat sich leider bisher nicht viel getan. An den Hauptschulen ballen sich hoch belastete Kinder und Jugendliche, denn viele Eltern schicken ihre Kinder heute auf andere Schultypen. Dadurch ist die Hauptschulklientel zwar weniger, aber dafür schwieriger geworden. Lediglich in Bayern und Baden-Württemberg, wo die Schulempfehlung der Grundschule bindend ist – die Eltern also weniger Einfluss auf die Schulwahl haben – gibt es die Probleme mit den Hauptschulen noch nicht in diesem Ausmaß. Insgesamt müsste dringend der Weg Hamburgs eingeschlagen werden, Haupt- und Realschulen zusammenzulegen.

w-net:
Haben Sie Vorschläge, wie die Situation zu ändern ist? Was könnte präventiv getan werden?

Prof. Pfeiffer:
Bundesweit wäre eine große Rettungsaktion notwendig. Während die gut integrierten Kinder nachmittags ihren Hobbys wie Reiten, Tennisspielen oder Fußball nachgehen können, haben die Verlierer der Gesellschaft nachmittags keine Angebote, hängen rum, sind stundenlang mit Fernsehen und Computerspielen zu Gange (z.B. haben Hauptschüler einen durchschnittlichen Medienkonsum von mehr als fünf Stunden am Tag), machen Unsinn.

Wenn man für alle faire Chancen erreichen will, brauchen wir eine Ganztagsschule, die Lust auf Leben weckt - durch Sport, durch Theaterspielen, kurz: durch gute Freizeitangebote.

Die Schulen brauchen ein ganzheitliches Konzept. Nicht nur Aufbewahrung am Nachmittag, sondern vielfältige Angebote und Unterstützung. Das liesse sich sogar finanzieren: Jugendzentren sollten komplett geschlossen werden, statt dessen sollte das ganze Geld in die Schulen gesteckt werden - für Freizeitangebote. Die Sozialarbeiter der Jugendzentren sind an den Schulen viel besser angesiedelt. Wir können in Hannover den Nachweis führen, dass sich in den Jugendzentren die Probleme eher verstärken.

Im Moment stehen die Schulen, ihre Räume, ihre wunderbaren Sportanlagen am Nachmittag und am Wochenende weitestgehend leer. Warum sie nicht zu Gemeinde- oder Stadtteilzentren machen? Schule als Mischung aus Freizeit-, Hobby-, Bürger- und Lernzentrum. Vereine könnten auf dem Schulgelände aktiv sein, Theateraufführungen könnten stattfinden, Seniorentreffs und, und, und. ... Das Ausland macht es uns vor. Die Anlagen würden doppelt und dreifach genutzt, so dass auch die finanziellen Ressourcen besser eingesetzt würden.

w-net:
Das klingt so einfach, warum wird es nicht umgesetzt?

Prof. Pfeiffer:
Das wird ja angegangen. Wir versuchen zur Zeit zusammen mit einer Integrierten Gesamschule in Hannover einen entsprechenden Modellversuch in Gang zu bringen. In Skandinavien sind derartige Konzepte längst umgesetzt. Dort sind die Kinder aktiv, haben am Leben teil, steigen lustvoll aufs Leben ein. Die Schule muss zum positiven Ansteckungsfaktor für sinnvolle Freizeitgestaltung werden. Das ist die deutsche Schule nicht, bis auf einzelne gute Beispiele in Sachsen, dort sind fast 40 % der Kinder Schüler in  Ganztagsschulen.

Der Norden allerdings hinkt in Sachen Schülerförderung stark hinterher. Nur ein Beispiel: 40 % der bundesweit in Musikschulen aktiven 10- bis 14-Jährigen leben in Bayern und Baden-Württemberg. Und das liegt nicht nur an mangelnden finanziellen Mitteln der Eltern.

Aber es gibt Hoffnung: im Ruhrgebiet startet gerade ein tolles Projekt an allen Grundschulen "Jedem Kind sein Instrument". Mit Hilfe von Stiftungsgeldern und Landesmitteln wurde es möglich, dass jedes Kind ein Instrument erlernen kann. Wir hoffen, dass dieses Projekt große Ausstrahlungswirkung hat.

Tipp: Prof. Dr. Christian Pfeiffer beabsichtigt, demnächst in Lüchow-Dannenberg einen Vortrag zum Themenkomplex zu halten.

Zur Person:

Prof. Dr. Christian Pfeiffer, geboren 1944, studierte Recht und Sozialpsychologie in München und London. 1987 wurde er Professor für Kriminologie und Jugendstrafrecht an der Universität von Hannover sowie Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Von 2000 bis 2003 war Prof. Pfeiffer Justizminister von Niedersachsen. Seit März 2003 ist er wieder Direktor des KFN in Hannover.

 

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2008-09-11 ; von Angelika Blank (autor),

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