Der renommierte Kunstsammler Harald Falckenberg war lange mit dem Punk-Künstler Martin Kippenberger befreundet. So konnte er am Sonntag Abend in Gartow auch Facetten des Punk-Künstlers sichtbar machen, die die gängige Kunstkritik nicht erwähnt.
Wäre Martin Kippenberger leibhaftig in Gartow erschienen, so wäre wohl so mancher der über 80 ZuhörerInnen nicht so fröhlich zu Wein und Snacks übergegangen. Denn der Liebhaber von "radikaler Ehrlichkeit" und "närrische Dämon", wie ihn Kippenberger-Freund und Sammler Harald Falckenberg bezeichnete, hätte wohl den Ein oder Anderen aus dem Publikum derbe vor den Kopf gestoßen. Und aus den Begegnungen des Abends wäre wohl das ein oder andere Kunstwerk entstanden. Denn für Martin Kippenberger waren gesellschaftliche Spielregeln sowie sozialer Umgang miteinander stets Rohmaterial für neue Kunstwerke.
Harald Falckenberg, den der Westwendische Kunstverein in Gartow eingeladen hatte, Leben und Werk des 1997 verstorbenen Künstlers näher zu beleuchten, zeichnete durch Anekdoten und Erinnerungen ein umfassendes Bild des unbequemen Künstlers, wobei er auch die kritischen Facetten im Charakter Kippenbergers nicht unterschlug. Zum Faszinosum wurde Falckenbergs Vortrag durch seine Fähigkeit, auch die privaten Details in einen kunsthistorischen Kontext stellen zu können. Die offizielle Biografie Kippenbergers ist überall nachzulesen. Falckenberg konzentrierte sich deshalb hauptsächlich auf Aspekte, die für ihn u. a. durch private Begegnungen erfahrbar geworden waren.
Zwischen Zynismus, Spießeranfällen und radikaler Ehrlichkeit
Zum Beispiel die Entstehung des Werkes "Selbstjustiz durch Fehleinkäufe": wie Falckenberg erzählte, war Kippenberger völlig genervt von seiner damaligen Freundin (der auch heute noch bedeutenden Künstlerin Margarete Trockel), die er mit Supermarkt-Tüten bewaffnet vom Einkaufen in die Wohnung zurück"schlurfend" beobachtet hatte. Flugs wurde daraus ein Kunstwerk, eben die "Selbstjustiz durch Fehleinkäufe". Die Beziehung war kurz darauf beendet. Wer da wen verlassen hatte, bleibt im Dunkeln. Nach der Fertigstellung des zynischen Werks bekam Kippenberger aber Skrupel, ob es in Ordnung war, seine Freundin derart in der Öffentlichkeit bloß zu stellen und schnitt ihre Silhouette aus dem Bild aus.
Die damals mit Kippenberger arbeitende Galeristin wiederum konnte sich nicht vorstellen, eine zerschnittene Leinwand auszustellen und nähte ihrerseits die Reste fein säuberlich auf eine neue Leinwand auf - was wiederum Kippenberger auf die Palme brachte.
Andererseits habe Kippenberger aber auch deutliche Züge von Spießigkeit gezeigt, so Falckenberg. So sei er mit "Abendmantel" und Puschen, bewaffnet mit einer Flasche Bier des öfteren bei seiner Nachbarin, einer alten Dame, aufgetaucht und habe ganze Abende lang ihren Fernsehsessel besetzt.
Die 70er - zwischen Desillusionierung und Spaßkultur
"Kippenberger muss man auch im gesellschaftlichen Sinnzusammenhang der 70er und 80er betrachten," so Falckenberg. Ende der 70er Jahre begann die Punkbewegung aus England nach Deutschland überzuspringen, die Jugend war desillusioniert und sah wenig Perspektiven. Der hoffnungsfrohe Aufbruch der Revoluzzer der 68er Jahre hatte für die Jugendlichen wenig Realität. Gleichzeitig griffen Konsumwahn und "Gib-Gas-ich-will-Spaß"-Mentalität immer mehr um sich.
Mit der Gründung der "Liga zur Bekämpfung des widersprüchlichen Verhaltens" läuteten Kippenberger und seine Freunde endgültig die Postmoderne ein. Während Beuys mit seiner Kunst und der "Freien Internationalen Universität" intensiv an der Umgestaltung der Gesellschaft arbeitete, hatte Kippenberger keinen Anspruch auf politisches Agieren. Er hatte laut Falckenberg die Hoffnung, eine neue Gesellschaft zu finden, längst aufgegeben und konzentrierte sich statt dessen auf die Abrechnung mit der Moderne.
In einem "anarchisch-absurden Pogo" sei Kippenberger durch "die Kulturlandschaften" gezogen und habe viele gesellschaftliche Themen in sein ganz persönliches Licht gerückt. Im Gegensatz zu Joseph Beuys, dem "letzten Optimisten der 70er Jahre" sei Kippenberger in hohem Grade melancholisch gewesen, ist sich Falckenberg sicher.
Dass Kippenberger sich aber auch mit seinem direkten Umfeld, der Punkszene Berlins durchaus aneckte, beweist folgende Geschichte: mit geerbten 100 000 DM hatte Kippenberger sich in die Berliner Punk-Kneipe SO36 eingekauft und nutzte diesen Raum u. a. als seine ganz persönliche Selbstdarstellungs-Bühne. Als Entertainer, Organisator und Performancekünstler machte er die Kreuzberger Szenekneipe zu einem Kunstort. Bis das Bier teurer werden musste. Das nahmen ihm die "echten Punks" denn doch übel, hatten sie Kippenberger eh nie so recht als einen der ihren akzeptiert. "Kippi", wie ihn Freunde nannten, wurde vor dem SO 36 von Punks übelst zusammengeschlagen. Aber auch das für ihn Anlass für ein neues (selbst)ironisches Kunstwerk: In seinem Krankenhaus-Outfit, mit verbundenem Kopf und deutlich sichtbaren Wunden ließ er sich großformatig ablichten und versah das Plakat mit dem Spruch "Dialog mit der Jugend".
Kippenberger - ein Vorwegdenker der Postmoderne "Kippenberger nahm das Ende der Moderne vorweg," so Falckenberg. Nach seiner Ansicht ist die letzte Idee der Moderne, der Sozialismus, 1989 mit dem Ende der DDR zusammengebrochen. Kippenberger hatte schon ungefähr 10 Jahre vorher die "Fürsorgliche Einrichtung einer Samenbank für DDR-Flüchtlinge" vorgeschlagen.
Aber auch über Stil und Methoden hatte Falckenberg einiges zu sagen. "Die Wucht seines Angriffs richtete sich gegen das schöne Zeichnen, gegen das Repräsentative," erläuterte Falckenberg die deutlichen Bezüge zur Punk-Kultur. Auch dort war das "Bad Painting" zum Stilmittel der Bewegung geworden. Jeder sollte Kunst machen können, ohne handwerkliche Fähigkeiten, dafür mit umso mehr Ausdruck. Es ging geradezu darum, die handwerklichen Techniken zu vergessen und eigene stilistische Mittel zu entwickeln.
Eine unersetzliche Reinigungskraft der Gesellschaft
Kippenberger schaffte diesen Spagat mühelos. Im Laufe der Jahre entwickelte er eine unerschöpfliche Formen-, Methoden- und Aktionsvielfalt, die ihresgleichen sucht. Ölgemälde, Zeichnungen, Collagen, Performances oder Grafik - auch in der Stilistik gab es für ihn keine Grenzen. Dabei hielt er der Gesellschaft immer wieder einen Spiegel vor. Auch ein "phantastischer Familiengründer" soll er gewesen sein, dem es darum gegangen sei, immer mehr und mehr Mitglieder zu rekrutieren. Mitglieder einer Familie, die sich nicht an tradierten Vorstellungen orientierte, sondern die nicht nur eine Idee einte: "Ereignisse mit Kunst zu 'versiegeln', damit bloß nichts vom Leben verloren ginge." So beschrieb es zumindest Kippenbergers Freund und Kunst-Partner Werner Büttner auf der Totenfeier im Burgenland.
Und es war auch Büttner, der Kippenberger als "dämonischen Narr" bezeichnete, einer "unersetzlichen Reinigungskraft der Gesellschaft". Letzteres mag auch der Grund sein, warum Kippenbergers Werke heute zu Höchstpreisen gehandelt werden. "Wir stecken in der Malesche immer noch voll drin," so Falckenbergs Begründung für den hohen Wert. "Es gibt immer noch keine Konzepte für die Bewältigung der gesellschaftlichen Krise."
Insofern wird der "umtriebige Hygieniker" Martin Kippenberger heute immer noch gebraucht - 18 Jahre nach seinem Tod.