Rund 150 Menschen ließen sich am Montag Abend in Lüchow von Polizei, Innenministerium und Johannitern über die Situation in der Lüchower Notunterkunft informieren. Tenor: die akute Situation bringt alle Verantwortlichen an den Rand ihrer Kapazitäten.
Eigentlich sollen Flüchtlinge, die in Deutschland landen, nur einige wenige Wochen in Erstaufnahmeeinrichtungen verbringen müssen. Nach spätestens vier Wochen sollten sie in verschiedenen Kommunen untergebracht werden, wo sie ihr Asylverfahren abwarten.
Dieses Konzept ist spätestens seit August völlig zusammengebrochen. Die Erstaufnahmeeinrichtungen sind völlig überlastet, selbst die Registrierung und Aufnahme der notwendigen Angaben zieht sich über Monate hin. Täglich kommen weitere 700 Flüchtlinge in Niedersachsen an, für die Unterkünfte gebraucht werden. Und immer noch stehen an zahlreichen Stellen Zeltlager, obwohl der Winter nahe. Auch in Lüchow-Dannenberg wird gerade die dritte Notunterkunft eingerichtet, um die Zeltlager möglichst bald auflösen zu können.
Um die Lüchower-Dannenberger - speziell die Lüchower - Bevölkerung über die aktuelle Situation zu informieren, hatten Polizei, Johanniter und die Stadt Lüchow am Montag Abend zu einem Informationsabend in die St.-Johanniskirche eingeladen.
Dirk Verleger, Abteilungsleiter im Innenministerium, wo er für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig ist, machte keine Hoffnung, dass die Notunterbringungen von Flüchtlingen im Landkreis schon bald enden werden. "Wir reden nicht über Wochen, sondern über Monate", so Verleger am Montag Abend. Mindestens über den Winter werden die Notunterkünfte in Lüchow-Dannenberg wohl Bestand haben. Ansonsten konnte er keine Prognose darüber abgeben, wie sich die Flüchtlingssituation insgesamt entwickeln wird.
Personalnot bei Behörden und Institutionen
"Wir stehen vor einer gigantischen Herausforderung, für die es noch kein absehbares Ende gibt," so Verleger. Im Ministerium wird in 24-Stunden-Schichten daran gearbeitet, die Flüchtlinge unterzubringen, in der Kreisverwaltung wurden alle Mitarbeiter "vorgewarnt", dass sie demnächst womöglich alle mit Flüchtlingsaufgaben betraut werden und Landrat Schulz hatte vergangene Woche im Kreistag alarmiert kundgetan, dass die Kapazitäten der Kreisverwaltung "am Ende" seien. Auch viele der ehrenamtlichen Helfern der Organisationen sind am Ende ihrer Kraft. Viele hatten nächtelang in Lüchow beim Aufbau der Notunterkunft geholfen.
Auch drei Wochen nach der Ankunft der ersten Flüchtlinge geht es in der Lüchower Notunterkunft nach Aussagen ihres bisherigen organisatorischen Leiters, Harald Gottschalk, immer noch darum, der "Lage ein Stück voraus" zu sein. Täglich wechselt die Belegung. Einerseits verlassen Flüchtlinge die Unterkunft und gehen eigene Wege, andererseits kommen immer wieder neue Flüchtlinge an. Täglich kommen neue Herausforderungen auf die Mitarbeiter zu. Menschen aus über zwanzig Ländern, die 16 Sprachen sprechen, sind zu verpflegen, zu betreuuen und letztendlich auch zu verwalten.
Angesichts von rund 200 Kindern unter den Flüchtlingen galt es zum Beispiel zunächst, eine ausreichende Zahl Kinderbetten zu organisieren. "Allein für den Zusammenbau haben wir viele Hände gebraucht," berichtete Harald Gottschalk. Räume für diverse Angebote mussten gesucht bzw. freigeräumt werden. Daneben gab es viele kleinere Probleme zu lösen, wie z.B. die Übersetzung von Bedienungsanleitungen für Waschmaschinen und Trockner sowie die Beschaffung von Nähmaschinen, damit die muslimischen Frauen sich ihre Kleidung selbst nähen können. Denn in näherer Umgebung gibt es keine Kleidung zu kaufen, die diese Frauen ihrer Tradition gemäß tragen können. "Um dieses Angebot machen zu können, musste zunächst geklärt, ob die elektrische Versorgung ausreichend ist," so Gottschalk.
Immerhin funktioniert die grundlegende Struktur inzwischen soweit, dass Gottschalk, der bisher nur mit der Bewältigung akuter Katastrophenlagen vertraut war, durch einen Leiter abgelöst wird, der den Betrieb derartiger Einrichtungen gewohnt ist. Um die professionellen ehrenamtlichen Helfer von Feuerwehr, DRK und anderen Hilfsorganisationen zu ersetzen, seien inzwischen einige hauptamtliche Mitarbeiter eingestellt worden, ergänzte Gottschalk.
Helfer sorgen sich um das Wohl der Flüchtlinge - andere fühlen sich ausgeschlossen
Viele der in der St.-Johanniskirche anwesenden Bürger beschäftigte, ob die Flüchtlinge mit dem versorgt werden, was sie nach ihrer Ansicht benötigten wie z.b. Deutschunterricht oder Kinderbetreuung. Vieles ist in Arbeit, wie die Johanniter betonten, einiges müsse aber auch aufgebaut. Wie die Johanniter-Sprecherin Lena Kopetz erläuterte, sind inzwischen einige hauptamtliche Stellen für die soziale Betreuung eingerichtet worden, wie z.B. Sozialassistenten und -pädagogen.
Aus den Zusammenhängen der facebook-Gruppe "wendland humanity" oder der Initiative "Zuflucht Wendland" war einige Kritik darüber zu hören, dass die Helfer vor bürokratischen Schranken stehen, die ihnen die Hilfe erschweren. Eine Frau wunderte sich, dass die "im gewaltfreien Widerstand in Jahrzehnten erworbene Kompetenz der Selbstorganisation" nicht genutzt werde.
Sowohl die Polizei und die Johanniter stellten zwar in Aussicht, dass sich die Spielregeln lockern würden, wenn der Alltagsbetrieb erst einmal reibungslos laufe, stellten aber auch klar, dass auch dann freiwillige Hilfe nur innerhalb bestimmter Strukturen möglich sein wird. "Wir müssen einerseits sehen, dass der Laden in Ordnung gehalten wird und wie wir die zahlreich angebotene Hilfe sinnvoll integrieren können," bat Verleger um Verständnis.
"Wir kontrollieren den Zugang vor allem zum Schutz der Flüchtlinge," betonte Ulrich Constabel. Einerseits wolle man nicht, dass "Flüchtlingsvoyeure" die Bewohner in ihrer Privatsphäre belästigten, andererseits gelte es auch, sie vor potenziellen Gefahren zu schützen.
Großen Raum nahm auf der Infoveranstaltung die Hebamme Katja Tempel ein, die noch einmal ausführlich ihre Schwierigkeiten in der Lüchower Notunterkunft bei der Betreuung von Schwangeren schilderte. (zum Hintergrund: die Hebamme hatte sich in der Notunterkunft einen Platzverweis durch die Polizei eingehandelt, nachdem sie sich mit den Johannitern darüber gestritten hatte, dass sie ihre Patientinnen nicht alleine in deren Wohnräumen behandeln durfte). Sowohl Polizei und Johanniter betonten, dass ihre Mitarbeit weiterhin willkommen sei. Polizeisprecherin Wiebke Hennig räumte ein, dass der "Vorgang nicht optimal gelaufen" sei. Auch Ministeriumsvertrreter Verleger plädierte dafür, in "guten Gesprächen" die Situation zu klären.
Alle zusammen betonten, wie dankbar sie für die umfangreichen freiwilligen Hilfsangebote sind, "ohne die wir die Notunterkunft nicht aufrecht erhalten könnten," baten aber auch um Verständnis, dass angesichts der komplexen Problemlagen Hilfe nur innerhalb der in der Notunterkunft geltenden Spielregeln geleistet werden könne. "Natürlich sollen die freiwilligen Helfer mit eingebunden werden," betonte nicht nur Lena Kopetz. Am Donnerstag wird sie sich mit freiwilligen Helfern im KUBA Hitzacker treffen, um mögliche Zusammenarbeitsformen zu besprechen. "Ich hoffe sehr, dass wir dort zu einem guten Ergebnis kommen," so Kopetz.
Ein Bürger - sichtlich genervt von den Beschwerden der sich behindert fühlenden Helfer - erinnerte daran, dass es "hier nicht um die Befriedigung wendländischer Eigenheiten" gehe, sondern um eine Besinnung auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge.
Ein Arzt aus der Region plädierte ausserdem dafür, den Fokus nicht nur auf die Bewohner der Notunterkünfte zu richten, sondern die Flüchtlinge nicht zu vergessen, die langfristig im Landkreis bleiben werden.
Welche speziellen Probleme auf die Hilfsorganisationen bei der Einrichtung von Notunterkünften auf dem Lande lauern, machte eine Landwirtin sichtbar, die einen Teil ihrer Felder neben der Polizeikaserne bewirtschaftet. Die Flüchtlinge nutzen ihren Acker seit drei Wochen als Abkürzung in die Stadt. Mittlerweile sei dort ein fünf Meter breiter Trampelpfad quer durch das Feld entstanden. "Unsere Felder werden aber regelmäßig durch Flugzeuge vermessen und die Bewirtschaftung dokumentiert.
Kaum Kritik an der Flüchtlingsaufnahme
Nach dem Umfang der landwirtschaftlichen Nutzung berechnen sich dann unsere Prämien," so die Landwirtin. Nun mache sie sich Sorgen, dass ihre Prämienzahlungen reduziert würden. Ein Problem, mit dem die Betreiber der Notunterkunft mit Sicherheit an städtischen Standorten mit Sicherheits nichts zu tun haben. Ministeriumsvertreter Verleger versprach, dieses Problem mit seinen Kollegen vom Landwirtschaftsministerium zu besprechen.
Lediglich ein einziger Bürger äußerte seine Kritik an der Flüchtlingsunterbringung in Lüchow-Dannenberg, da er befürchte, dass der Landkreis sich durch die Vielzahl sehr verändern würde. Er wollte gar wissen, ob jemand "den Geisteszustand unserer Kanzlerin untersuchen könne, da sie es zulasse, so viele Flüchtlinge ins Land zu lassen." Moderator Manfred Liebhaber, Bürgermeister der Stadt Lüchow, ließ diese Diskussion jedoch gar nicht erst zu und ging sofort zum nächsten Fragesteller über. So blieb unbekannt, wieviele Kritiker oder gar Gegner der Flüchtlingsunterbringung sich tatsächlich im Raum befanden.
Zum Abschluss der Veranstaltung erinnerte Propst Stephan Wichert von Holten daran, dass "wir lange durchhalten müssen, damit es gut wird". Und: "Ja es wird sich etwas verändern. Aber das ist auch ein Appell an Menschlichkeit," appellierte Wichert von Holten an Verständnis und Mitgefühl.
Foto / Angelika Blank: Polizei, Innenministerium und Johanniter informierten am Montag Abend in der Lüchower St.-Johanniskirche über die Situation in der Notunterkunft Lüchow. von links: Ulrich Constabel (Kommissariatsleiter Lüchow), Wiebke Hennig (Sprecherin Polizeidirektion), Manfred Liebhaber (Bürgermeister Stadt Lüchow), Michael Fricke (Vorstand Johanniter Heide-Harz), Lena Kopetz (Sprecherin Johanniter), Harald Gottschalk (Johanniter/bisher organisatorischer Leiter der Notunterkunft.