Thema: castor2010

Meinung: Schottern gegen den Schotter

Helmut Koch mag sich nicht distanzieren. Es gibt Leute, die haben dazu aufgerufen, vor dem Castor-Zug den Schotter aus dem Gleisbett zu holen. Es gibt Leute, die regt das auf. Es gibt aber auch Leute, die regt das an.

Und es gibt Leute, die sich davon distanzieren – und sogar welche, die dieses Distanzieren auch von anderen verlangen. Wohlgemerkt: Niemand hat dazu aufgerufen, das Gleisbett zu sprengen oder zu bombardieren. Es geht in dem Aufruf um einen manuellen Rückbau.

Wie war das bisher? Da haben sich Menschen ins Gleisbett gelegt und angekettet. Da umarmten Bauern innig eine Betonpyramide auf der Straße. Menschliche Eichhörnchen hingen über dem Transportweg. Und die breite Palette des Widerstands gegen Atomanlagen spendete – Geld und auch Beifall. Oder freute sich klammheimlich. Nun wird so eine Aktion angekündigt, und schon scheiden sich die Geister. Ganz im Sinne des Divide-et-impera (teile – oder: spalte – und herrsche).

Was ist auf einmal los? Was ist so neu? Was so anders? Seit der allerersten Debatte über Widerstand und Gewalt vor mehr als 30 Jahren war im Wendland klar: Wir tun nichts, was Menschen körperlich verletzt oder beschädigt. Das war und ist der kleinste gemeinsame Nenner. Wird der jetzt von Schotterern aufgekündigt? Wird da (auch nur heimlich oder umschrieben) gewünscht, mit Steinen zu werfen? Soll da der Personenverkehr gefährdet werden? Dreimal ein und dieselbe Antwort: Nein! Also noch einmal: wo ist das Neue? Oh, die Ankündigung verlangt Stellungnahme. Wirklich? Liegt die Kraft des Widerstands nicht gerade auch darin, daß hier jeder (abgesehen von dem eben genannten kleinsten gemeinsamen Nenner) für sich das verantwortet, was er tut, und nicht zuerst bewertet, was andere machen?

Oder ist die Angst vor dem Anlocken gewaltbereiter Leute die Antriebsfeder für die sehr aufgescheuchten Reaktionen? Aber es ist doch eine uralte Erfahrung, daß die Gewaltbereiten, wenn sie denn loslegen wollen, sich weder von einer Distanzierung noch von einem Aufruf beeinflussen lassen. Die machen, so oder so, ihr Ding – auch das ist nicht neu – ebensowenig wie die Tatsache, daß auch wir uns deswegen nicht umgekehrt von dem abbringen lassen dürfen, was wir tun wollen.

Wenn also Menschen bereit sind, ganz öffentlich und vorher angekündigt Gesetze zu übertreten, zu einem bestimmten genannten Zeitpunkt und Zweck, und auch bereit sind, die möglichen Konsequenzen zu tragen – was, verdammt noch mal, ist aus Sicht des Widerstands daran verwerflich, solange keine tatsächliche Gefährdung anderer besteht?

Oder geht es hier um etwas ganz anderes? Nämlich um „die Moral“? Aber wenn dem so sein sollte, um welche Moral geht es dann? Die Geschichte der Durchsetzung der Atomenergie ist die Geschichte des Einflusses von Geld und Macht für noch mehr Geld und Macht. Es ist die Geschichte von Manipulation, Hinhalten Täuschung, geschäftsmäßigem Gesetzesbruch, Betrug, Rechtsbeugung und der Anpassung der Gesetze an die Interessen der Kon-zerne – durch die Politik. Es ist eine Geschichte der Unmoral. Es geht der Politik und der Wirtschaft – das zeigen auch und gerade die letzten „politischen“ Entscheidungen zur Laufzeitverlängerung technischer Dinosaurier – es geht einzig und allein und immer wieder und immer nur um Profit und Macht. Und egal, welche Partei auch immer dran war – sie haben sich bisher noch alle biegen lassen, mal mehr, mal weniger.

Theoretisch, Herr Bahnchef Grube, geht alle Gewalt vom Volke aus. Das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen – aber zu glauben, wenn eine Partei 30 Prozent bei einer 55-Prozent-Wahlbeteiligung bekommt, dann sei alles, was sie hernach tut, demokratisch legitimiert, mithin „vom Volke“ so gewollt, ist ein Witz. Ich denke, daß schon eine Erfindung wie „der Fraktionszwang“ verfassungswidrig ist. Ob Atomkraft oder „Stuttgart 21“: Volksvertreter vertreten alles mögliche, aber nicht das Volk, sie denken nicht im Traum daran. Das beweisen sie eindrucksvoll seit Jahrzehnten.

Nun haben wir eine Kanzlerin, die aus ihrer Zeit als Umweltministerin Wesentliches an Asse und Morsleben zu verantworten hat. Es ist die Frau, die das tödlichste Gift, nämlich Plutonium, nonchalent und lächelnd mit Backpulver verglichen hat. Eine Physikerin! Also eine, die weiß, was das ist: Plutonium. Ich halte das für ein Verbrechen an der Menschheit, besonders an der zukünftigen. Um Konzerninteressen zu schützen, läßt Politik Polizei aufmarschieren. Und die Beamten, die eigentlich für unsere, der Bürger des Landes, Sicherheit sorgen sollten, werden zu Bütteln für Wirtschaftsinteressen gemacht.

Auch ist es so: Friedliche Demonstrationen beeindrucken die Oberen schon lange nicht mehr. In Hannover – vor dreißig Jahren – war ein Ernst Albrecht noch von 100 000 Menschen beeindruckt. Heute werden 100 000 von Merkel und Co. nicht einmal zur Kenntnis genommen – es sei denn, die Zahl steht auf ihren Konten und dahinter steht ein Euro-Zeichen.

Was sollten wir daraus lernen? Auf jeden Fall: nicht genauso zu werden, in keinem Fall unsere Prinzipien, unsere Menschlichkeit zu verraten. Wehren wir uns weiter! Gewaltfrei! Das bedeutet: Wir greifen nicht an – keine Polizisten, keine Politiker, keine Andersdenkenden. Aber wir haben keinen Grund, uns von Menschen zu distanzieren, die mehr tun, mehr riskieren, und mehr Folgen zu tragen haben werden als der Eine oder die Andere von uns.

Ich rufe nicht zum „Schottern“ auf, weil ich selber weder die Gesundheit noch die Traute habe, um dabei mitzumachen. Aber wenn die, die es tun, nicht die Steine auf andere werfen, wenn sie offen die Konsequenzen tragen, und dies aus Protest gegen Politik, Konzerne und deren Handeln tun, werde ich mich nicht distanzieren. Es steht in keinem Verhältnis zu dem, was die Gegenseite an Macht einsetzt, um sich gegen die Bevölkerung durchzusetzen. Wahrscheinlich werden die Schotterer von der Polizei verprügelt, verhaftet und angeklagt. Und eigentlich müßte ich dabei sein.

Foto: Andreas Conradt/publixviewing.de




2010-11-01 ; von Helmut Koch/zero (autor),

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