Helmut koch will nicht mehr – sondern weniger Landpartie.
Der neue „Reisebegleiter“ der Kulturellen Landpartie 2010 liegt in meinem Bad, im Büro und auf dem Nachttisch. Ein kleines dickes lila Ding. Der Stolz, da was mit zu tun zu haben, von Anfang an dabei zu sein, läßt sich nicht verleugnen. Und die ersten 23 Seiten sind ein toller Beginn. Lustvolle Texte, informativ. Schöne Ideen, angefangen bei der Konzept-Art zum Endlager, über die „junge Kunst“, den „Contrapunkt“, bis zu den Stromwechsel-Aktivitäten. Dann folgen 175 Seiten mit Ausstellungen und Aktionen, Veranstaltungen und Ausstellungen und Veranstaltungen und Aktionen und Ausstellungen und...
Wenn ich einfach von vorn anfange, weiß ich bei Göttien schon nicht mehr, was in Bergen los war. Egal. Man kann sich ja auch an den Gewerken orientieren. Oder im Register nach Bekannten suchen. Oder sich mal eine Radtour vornehmen. Vielleicht auch einfach mit dem Bus fahren. Oder kein Essen einkaufen und die KLP als Menü-Plan zusammenstellen. Eine Woche lang nur Ököbio.
Aber was soll man sagen, wenn die zu Pfingsten einfallenden Freunde vorher am Telefon wissen wollen, wo man dieses Mal unbedingt hin sollte – an nur zwei Tagen des Wendlandbesuchs?
Was will ich überhaupt sehen? Was hören? Wobei mitmachen? Vielleicht erst mal nach Veranstaltungen gucken und davon ausgehend einen Plan...? Der Veranstaltungskalender beginnt auf Seite 220 und geht bis Seite 272. Zwei Spalten pro Seite. Durchschnittlich zehn bis zwölf Termine je Spalte, minus ein paar Fotos. Das sind 53 Seiten, mal zwei Spalten, macht 106 Spalten mit je zehn Terminen... Oje, das sind mehr als 1000 Veranstaltungen an nur 10 Tagen. Das ist eine Zahl, die unbedingt genannt werden muß. Es ist bestimmt ein neuer KLP-Rekord: Tausend Veranstaltungen! Tusch! Trara! Trara!
Mich beschleicht ein altes Gefühl. Es ist wie damals vor 35 Jahren in Berlin (West) beim Lesen von „Zitty“, „Tip“ oder „Hobo“. Überdruß! Keine Lust, mich durch den ganzen Wust zu wühlen. Da bleibe ich bei dem, was ich kenne. Da probiere ich nichts Neues. Wie sollte ich auch bei dieser Lawine eine Idee davon bekommen, was interessant sein könnte? Sicher, man kann alles genau durchlesen. Mit ein wenig Glück ist man damit fertig, bevor alles vorbei ist.
Immerhin wäre das möglich – der „Reisebegleiter“ war (mal wieder) rechtzeitig da. Aber irgendwie habe ich gar keine Lust, das alles zu lesen. Ich geh’ einfach dahin, wo ich immer hingehe. Bestenfalls kann man ja noch einer der Empfehlungen der ersten zwanzig Seiten folgen.
50 000 Gäste nennt das „Herzlich willkommen“. Ich vermute, es sind statt 50 000 verschiedener Personen eher 50 000 Besuche gemeint. Da kämen dann bei 1 000 Veranstaltungen jeweils 50 Personen – oder sind es 50 Besucher. Nee, Moment, Besuche, 50 000, nicht Personen, also 50 Besuche je Veranstaltung – aber wenn einer zu zehn Konzerten geht, dann sind es vielleicht nur fünf, äh, oder 500 Besuche oder Personen pro Veranstaltung. Jetzt bin ich verwirrt.
Jedenfalls schlägt irgendwann Quantität in Qualität um. Oder war es umgekehrt? Aber viel ist viel wert. Wie steht es im „Willkommen“? „...die Melodie des Lebens, das Pure, Rare, Raue, Sanfte, das Staunen.“
Ich staune. Ich werde das Rare in der Menge suchen. Ganz sanft. Das pure Kuchenessen im Kreis der 50 000 genießen und der Melodie unseres Lebens lauschen: „Schöner, Höher, Weiter, Schneller, mehr, mehr, mehr...“ Kommt ins Wendland her, mehr her, alle her, ist sonst so leer.
Davon können und wollen wir leben. Umsatz machen und den Widerstand gegen Gorleben unterstützen. Das ganz besonders. Schon der hundertprozentige Umstieg aller KLPer auf Ökostrom bezeugt schließlich unsere Ernsthaftigkeit.
Früher, als wir noch für Windräder waren, wollten wir „GROWIAN“ nicht – die größte Windkraft-Anlage aller Zeiten. Wir haben das mit den Grenzen des Wachstums des „Club of Rome“ schon damals sofort verstanden. Wir wissen, daß Schneeballsysteme nicht funktionieren. Wir wissen, daß der Kapitalismus nur vom Wachstum lebt.
Was machen wir nun mit der KLP? Ich weiß es nicht. Nicht weiterwachsen. Aber ohne wen? Wer soll gehen, wer soll verzichten? Und wer soll das bestimmen? Wie bisher weitermachen und warten, bis das Biotop umkippt? Damit neues Leben aus dem Faulschlamm entsteht? Die KLP professioneller, besser, schöner machen, vielleicht ist das der schnellste Weg zu den Grenzen des Wachstums. Kann, will die KLP zurück? Wohin?
Ich bin für die Gründung einer Gruppe „Wunde.r.punkte in der Kulturellen Landpartie“. Und da darf keiner mitmachen, der älter als dreißig ist. Watt mutt, datt mutt. Wir seh’n uns – bei der Landpartie.