Thema: flüchtlinge

Nähen um anzukommen

Immer Dienstags und Freitags wird ein Raum in der Lüchower Notunterkunft zu einem lebendigen Treffpunkt voller Kreativität: Dutzende Flüchtlinge nutzen dann die Möglichkeit, sich an der Nähmaschine neue Kleider zu zaubern.

Es ist Dienstag Nachmittag in der Lüchower Notunterkunft. Schon kurz nach der Öffnung des nicht allzu großen Raums in einem Trakt der Polizeikaserne strömen Menschen hinein: jüngere und ältere Frauen, Kinder und auch einige Männer.

In kürzester Zeit ist der in fröhlichem Gelb gestrichene Raum mit über zwanzig Menschen gefüllt. Sie alle haben nur ein Ziel: eine Nähmaschine zu erobern und sich an die Arbeit zu machen. Hosen haben sie mitgebracht, Stoffstücke oder Kleidungsstücke, die abgeändert werden wollen.

Im ganzen Raum herrscht eine emsige Arbeitsatmosphäre, in der aber auch viel Raum für Plausch ist. Und Tee steht natürlich auch auf den Tischen. Die kleineren Kinder haben sich sofort die wenige Exemplare der bunten Bilder-Sprachlernbücher gegriffen, die größeren nutzen die Zeit für einen Schwatz am Fenster. Hier diskutieren einige Frauen, wie mit diesem riesigen Stoffstück wohl umzugehen sei, dort wird bereits eifrig an Kleidungsstücken gearbeitet. Eine junge Palästinenserin aus Aleppo hat sich dem Stricken verschrieben. So müssen Nähstuben vergangener Tage ausgesehen haben ...

"Das ist jedes Mal so, wenn wir die Nähwerkstatt öffnen," lacht Monika Müller-Hagedorn, die seit mehreren Wochen mit acht weiteren HelferInnen die Nähwerkstatt begleitet. Eigentlich wollte die Lehrerin aus Clenze, Nähkurse für Flüchtlinge an ihrer Schule anbieten, doch das zerschlug sich angesichts der komplizierten Fahrmöglichkeiten.

Die Idee zu der Nähwerkstatt hatte Propst Stephan Wichert von Holten, der sich bei der Ankunft der Flüchtlinge in Lüchow an seine Mutter erinnerte, die in den 60er Jahren "mit dem Besen in der Hand" dafür sorgte, dass in dem eigenen Familienbetrieb Gastarbeiter eine Möglichkeit erhielten, sich selber Kleidung zu nähen. "Uns war schnell klar, dass wir etwas machen müssen, wo auch die Frauen ankommen können," so der Propst.

Doch es sind nicht nur Frauen, die die Gelegenheit, sich Kleidung zurecht zu schneidern, nutzen. "Oft sind die Hälfte der Maschinen von Männern belegt," erzählt Monika Müller-Hagedorn. Auch an diesem Dienstag sitzen an mehreren Maschinen Männer, nähen Jeans um oder reparieren andere Kleidung. Am großen Mitteltisch steckt ein junger Mann in professioneller Geschwindigkeit eine Hose um.

Das Wundern über die Gewandtheit, mit der alle im Raum mit Stoffen und Maschinen umgehen, verwandelt sich in ein erstauntes "Aha", als die Begleiter erzählen, dass viele der Flüchtlinge Schneider/innen sind. Auch einige Designer sind unter ihnen.

Wie zum Beispiel M irvat Alshanawane. Die junge Frau führte in Bagdad gemeinsam mit ihrem Mann eine erfolgreiche Textilfabrik - bis eine Bombe das Gebäude zerstörte und ihren Mann unter den Trümmern begrub. Nun will die Designerin sich in Deutschland eine neue Zukunft aufbauen, hofft auf Kontakt zu anderen Designern, mit denen zusammen sie etwas aufbauen kann.

Oder Azhar Alenazi. Schon in Syrien ernährte sie mit Nähen die ganze Familie, da ihr Mann krank ist. 20 Tage war die Familie unterwegs, bis sie endlich in Lüchow landeten. Azhar Alenazi ist erstaunt über so viel Menschlichkeit in Deutschland. Das hätte sie nicht erwartet - nur das Essen findet sie noch etwas gewöhnungsbedürftig.

Der bunteste Vogel unter den Nähbegeisterten ist Kahraman Rashid, der "Meister der Frauen-Hausschuhe". Kaum 18 Jahre alt ist der Schneider aus Bagdad, der nach eigenem Bekunden alles näht, was Frau so braucht: Hausschuhe, Taschen oder Portemonnaies. "Bringen Sie mir Material und ein Modell und ich nähe Ihnen alles, was Sie wollen," bietet er den Umstehenden an. Ob "Meister für Frauen-Hausschuhe" in Syrien ein eigener Lehrberuf ist, ist nicht wirklich herauszubekommen, da die Übersetzungs-App auf seinem Handy nur kryptische Antworten liefert, die nicht so recht weiterhelfen. 

Angesichts dieser geballten Kompetenz im Schneidern beschränkt sich die Unterstützung der Begleiterinnen hauptsächlich auf das Organisieren neuer Maschinennadeln und Hilfe bei technischen Problemen. "Wir leisten hier schlicht Hilfe zur Selbsthilfe," so Monika Müller-Hagedorn.

Und genau das ist auch die Idee, die Propst Wichert von Holten und die Leitung der Notunterkunft im Kopf hatten, als sie die Nähwerkstatt einrichteten.

"Hier können sie nicht zuletzt sich selbst zeigen, dass sie nicht nur Flüchtlinge sind, sondern auch etwas können," so der Propst. "Sie fangen an, das Ankommen zu gestalten. Das ist die Voraussetzung, um das Bleiben zu schaffen. Dieser gelb gestrichene Raum gibt Sicherheit. Denn eigentlich sind sie alle noch auf der Flucht."

Denn alle, die sich zur Zeit in der Notunterkunft aufhalten, sind bestenfalls bei der Landesaufnahmebehörde registriert worden. Wann ihr Asylantrags-Verfahren beginnt, wissen weder die Behörden noch die Flüchtlinge. "Dieser ungeklärte Status ist natürlich für alle eine Belastung," so der Propst.

Für Einrichtungsleiter Sascha Omari ist die Nähwerkstatt nicht nur eine Beschäftigungsmöglichkeit, sondern auch die Gelegenheit, selber Dinge herzustellen. "So warten sie nicht auf irgendeine Arbeit, sondern beginnen, sich selbst etwas aufzubauen."

Seit rund fünf Wochen existiert die Nähwerkstatt in der Notunterkunft. Sie wurde von Anfang an so begeistert angenommen, dass die Nutzungszeiten längst verlängert wurden - und ständig neue Stoffe herangeschafft werden müssen. In einer Ecke lehnen Dutzende leere Papprollen, die noch vor kurzer Zeit von langen Stoffbahnen umhüllt waren - eine große Spende des Dannenberger Textilunternehmens Nya Nordiska.

Doch von den ehemals 16 Rollen sind fast alle verbraucht. Lediglich einige wenige Gardinenstoffe sind übrig geblieben. Klar, in der Notunterkunft sind Vorhänge oder Gardinen das Letzte, was Flüchtlinge benötigen. Beliebt sind Baumwollstoffe in allen Farben oder auch alte Damastbettwäsche, die mit einer einfachen Technik in rasender Geschwindigkeit   zu Gebetsumhängen umgearbeitet werden. "Weiß ist zwar eigentlich als Umhangfarbe vorgesehen, aber falls diese Farbe nicht verfügbar ist, können auch alle anderen Farben benutzt werden," erklärt Sascha Omari. So werden in der Frauenabteilung der Lüchower Moschee wohl demnächst viele bunte Tücher die Gebetsstunden erleuchten.

Auch Nähmaschinennadeln fehlen angesichts der ständigen Nutzung immer wieder. "Also wer Kontakt zu einer Nähmaschinennadeln-Fabrik hat ... immer her damit," wünscht sich Sascha Omari. Ebenso gefragt sind Strick- und Häkelnadeln, denn auch diese Handwerkstechnik ist sehr beliebt.

All die Männer, Frauen und Kinder, die sich an diesem Dienstag in der Nähstube versammeln, haben nach schrecklichen Erlebnissen eine lange und aufreibende Flucht hinter sich. Doch hier, in diesem lichtdurchfluteten Raum, scheinen die schlimmen Erfahrungen zumindest zeitweise vergessen. Die Fröhlichkeit in dieser "Nähstube" steckt an. 

Fotos aus der Nähwerkstatt in der Notunterkunft Lüchow: Angelika Blank





 


Fotos

2015-10-29 ; von Angelika Blank (autor),
in Saaßer Chaussee, 29439 Lüchow, Deutschland

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