Thema: politik

Nein, Herr Schäuble!

Stefan Buchenau über das, was wir als Demokratie bezeichnen

Während dieser Text entsteht, tobt „draußen im Lande“ die „heiße Phase“ des Wahl“kampfs“. Das heißt, toben tun hauptsächlich Journalisten, die beklagen, daß die Politiker nicht toben wollen. Sie wissen einfach nicht, worüber sie schreiben sollen, wenn niemand tobt. Das kann man verstehen, weil das Rentensystem, die Bildungspolitik oder die Energieversorgung der Zukunft zwar wichtig, aber auch sehr kompliziert sind. In 100 Zeilen oder einem Anderthalb-Minuten-Beitrag sind solche Themen nur schwer zu behandeln. Und auch Journalisten machen sich’s gern etwas leichter.

Dabei könnten Politiker, die nicht toben, durchaus angenehm und kompetent sein, wenn sie denn mit Ruhe und Bedacht etwas wichtiges zu sagen hätten. Aber nicht nur die Kanzlerin formuliert lieber gefällige Nichtigkeiten und legt sich ungern fest – was ihrem Ansehen kaum zu schaden scheint. Herr Lafontaine hat nämlich, als er noch Kanzlerkandidat der SPD war, sehr unangenehme Erfahrungen mit Inhalten gemacht: Als er darauf hinwies, daß die Deutsche Einheit auch finanzielle Folgen haben dürfte, schwenkte das Wahlvolk lieber zum dicken Kohl, der dreist behauptete, das könnte alles aus der Portokasse bezahlt werden, und dann „blühende Landschaften“ an die gerade sich öffnende Mauer malte.

Was anderes. Herr Riesenhuber, Forschungsminister unter Kohl, antwortete auf die Frage, ob er denn die Manipulation an den Gorleben-Gutachten nicht bemerkt habe, sinngemäß: Natürlich nicht; ein Minister muß sich auf die Leute verlassen, die die Arbeit machen! Preisfrage: Was macht denn dann eigentlich ein Minister? Sicher scheint nur, er lebt, genau wie seine Kollegen in Regierungen und Parlamenten in einem eigenen Universum – eigen nicht, weil sie so viel Geld verdienen, sondern weil sie „wichtig“ sind, oder sich zumindest dafür halten. Auf Inhalte oder politische Visionen kommt es dabei schon lange nicht mehr an.

Sie, die politische Kaste (vom Präsidenten über alle Parlamente bis runter zum Dorfschulzen) hat den ganzen Betrieb, den sie eigentlich nur gut verwalten sollte, über die Jahrzehnte zu einer komplizierten Maschine ausgebaut, die nur von Spezialisten, also von ihnen, zu bedienen ist. Und diese komplizierte Maschinerie dient zu nicht unwesentlichen Teilen nur denen, die sie an den verschiedenen Hebeln bedienen, schafft ihnen Arbeit, Brot, ordentliche Altersversorgung und vor allem das Bewußtsein der eigenen Unersetzlichkeit – siehe die tragische Figur Dieter Althaus in Thüringen.

Neue, „frische“ Parteien bieten anfangs noch unerfahrenes Personal, die bringen eine Zeit lang gewohnte Muster durcheinander – aber zwei Legislaturperioden auf Landesebene, und die jeweiligen Inhaber von Büros haben sich so im Apparat eingerichtet, daß sie sich und uns einreden, das alles müsse, zum Wohl des Volkes, unbedingt so weitergehen. Das betrifft auch so geschätzte Politikerinnen wie Rebecca Harms, die immerhin zehn Jahre Landtag erreichte und seitdem im EU-Parlament wirkt. Waren es nicht einmal die Grünen, die gute Argumente gegen „Berufspolitiker“ hatten?

Wir sind das Volk. Aber wir bilden nur die Kulisse für eine Aufführung, die sich Demokratie nennt. Wir werden gebraucht, weil  Theater ohne Publikum nicht funktioniert. Manche wollen aber kein „Publikum“ mehr sein, die gehen, zum Beispiel, nicht mehr zur Wahl, was sich wahlarithmetisch zwar immer zugunsten der „Großen“ auswirkt und damit genau die Verhältnisse stärkt, die eigentlich abgelehnt werden, aber „Wahlboykott“ klingt immerhin sehr kämpferisch.

Doch die meisten „Nichtwähler“ entscheiden nicht aus Protest, zu Hause zu bleiben – sie haben einfach aufgehört, überhaupt an irgendetwas teilzunehmen, außer vielleicht am Kollek-tivbesäufnis beim Schützenfest. Sie haben ihre Lektion gelernt: Niemand hat auf sie gewartet, niemand will sie um sich haben, niemand wettet einen Cent auf ihre Zukunft. Also nehmen sie, was sie kriegen können, bedanken sich nicht, und sind auch sonst nicht sonderlich motiviert. Wer will es ihnen verdenken?

Und auch die Engagierten haben etwas gelernt: Dieser Staatsapparat läuft am besten und reibungslosesten ohne seine Bürger. Wo die sich aber doch einmischen, etwa als Bürgerinitiative ins Tagesgeschäft eingreifen, wird ihnen schnell deutlich gemacht, daß sie nur stören, keine Ahnung haben, naiv sind und überhaupt am besten zu Hause bleiben und das Fernsehprogramm genießen sollen.

Auf kommunaler Ebene, zum Beispiel in Clenze, fühlten sich örtliche Würdenträger dermaßen vom Bürgerengagement gegen einen dritten Supermarkt und den Abriß des Clenzer Hofes gestört, daß Bürgermeister Höbermann sich in öffentlicher Versammlung lautstark zu Wort meldete, um „Nicht-Clenzern“ das Wort zu verbieten. Genutzt hat es nichts; „Lidl“ ist irgendwo zwischen Protest und Finanzkrise verschwunden, eventuelle Nachfolger halten sich bedeckt und werden wie ein Staatsgeheimnis behandelt.

Und je höher die politische Ebene, desto absurder die Versuche, staatliches Handeln als „alternativlos“ und damit für nicht diskussionsfähig zu erklären. Selbst bei existentiell wichtigen Entscheidungen, wie etwa über ein atomares Endlager, „mauern“ alle Instanzen, verweigern den Einblick in 30 und mehr Jahre alte Akten. Bürgerbegehren werden, wie in Hamburg in Sachen Bildungspolitik, schon mal gern in ihr Gegenteil verkehrt, Voten wie in Lüchow-Dan-nenberg über künftige Schulformen (gut zwei Drittel stimmten für eine Form der Gesamtschule) werden in öffentlichen Beiträgen lokaler Polit-größen komplett uminterpretiert.

Die meisten Politiker auf allen Ebenen sind sich einig, daß „Volksentscheide“ des Teufels sind. Dabei wären sie längst ein unbedingt nötiges Korrektiv zu den ganz großen Koalitionen, die in den Parlamenten in wichtigen Fragen faktisch bestehen. Die Hartz-Gesetze wurden zwar unter Rot-Grün erdacht, aber – mit diversen Unionsänderungen versehen – von Rot-Schwarz-Grün beschlossen. Der Kriegseinsatz im Kosovo oder in Afghanistan, der Lissabon-Vertrag über die EU? Fast alle sind sich einig, bis auf die „Linken“ und ein paar CSU-Rebellen. Aber auch die agieren dort, wo man sie regieren läßt, sehr stromlinienförmig und in der Regel genauso allergisch auf „Einmischung“durch das Volk.

Eine „lebendige Demokratie“ erkennt man unter anderem an den Debatten im Parlament. Gemessen daran ist dieses Land reanimationswürdig, zumindest reif für den Notarzt. Nicht nur, weil die Redner meist uninspiriert vor weitgehend leeren Rängen ihre Standart-Stichwortkataloge aufblättern, sondern weil, egal was jemand zum Thema zu sagen hätte, die Entscheidungen längst festgeklopft wurden. Dazu haben die Funktionäre verschiedene Ausschüsse und vor allem den „Fraktionszwang“ erfunden.

Angeblich ist ein Abgeordneter nur seinem Gewissen verantwortlich. So steht es in der Verfassung, aber Papier ist geduldig. Falls sich aber mal jemand darauf beruft, wie unlängst nach der Hessen-Wahl, dann können Sie aber was erleben! Dann werden Sie so lange in der eigenen Fraktion gemobbt, durch Gerichtsverfahren und die Presse gezerrt, bis Sie entweder aufgeben oder zu Kreuze kriechen und fortan immer brav abnicken, was der jeweilige Vorstand beschlossen hat.

Nein, Herr Schäuble, dieses Land und seine Demokratie werden nicht von Links, Rechts oder den bösen Islamisten bedroht – solcherlei Bedrohungen kann und muß eine lebendige Demokratie aushalten. Bedroht wird diese Demokratie von Apparatschiks aller Parteien und Ebenen, die im Interesse der eigenen, ungestörten Berufsausübung „die Bürger draußen im Lande“ fernhalten, mit Scheindebatten abspeisen und damit einlullen.

Dummerweise geht es in der Politik tatsächlich um existenzielle Entscheidungen, die auch solche Menschen betreffen, die sich nicht für Politik oder Parlamente interessieren. Ein Apparat, der meint, das „ohne Volk“ entscheiden zu können, riskiert das Ende jeglicher Legitimation, und damit letztlich die Existenzgrundlage des Staates. Und was dann passiert, möchte ich mir lieber nicht ausmalen.

Foto: obs/Audi AG




2009-10-01 ; von Stefan Buchenau (autor),

politik  

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