Der Zahn der Zeit hat arg genagt am Fachwerkhaus in der Woltersdorfer Dorfstraße Nummer 38. Seit Donnerstag aber steht es im Scheinwerferlicht, ist Drehort für den Kinofilm „Die verlorene Zeit“ und „spielt“ darin ein Häuschen in Polen im Winter des Jahres 1944. Eine Liebesgeschichte mit tragischem Hintergrund entsteht, zu sehen sein wird sie voraussichtlich Anfang 2011.
Schon seit dem 9. November sind die Filmleute in Woltersdorf präsent, hatten bis Donnerstag mit vielerlei Aufbau- und Einrichtungsarbeiten zu tun, berichtet Produzent Sven Woldt. Seine MediaPark Film- und Fernsehproduktion GmbH, beheimatet in Berlin, zeichnet für die Herstellung des 105 Minuten dauernden Stücks verantwortlich. Koproduzenten sind der NDR, der MDR und ARTE, denn: Wenn der Film im Kino gelaufen ist, wird er im Fernsehen, im „Ersten“gezeigt. Associate Producer ist der bekannte Chefkameramann und Bildregisseur Michael Ballhaus, der am Donnerstagabend in der Kategorie „Deutsche in Hollywood“ in Potsdam mit dem Medienpreis „Bambi“ ausgezeichnet worden ist.
Die Handlung führt ins von deutschen Truppen besetzte Polen im Jahr 1944. In einem Konzentrationslager lernen sich der Pole Tomasz Limanowski, ein politischer Häftling, und die Jüdin Hannah Silberstein kennen und lieben. Die Beziehung bleibt nicht ohne Folgen: Hannah wird schwanger. Tomasz beschließt: „Wir fliehen“ – und verwirklicht einen waghalsigen Plan. Mit Hilfe eines Freundes gelangt er an eine deutsche Offiziersuniform, und in dieser Verkleidung schafft er es, Hannah als „Gefangene“ zu einem „Verhör“ aus dem Lager zu holen. Zwar gelingt die Flucht, aber die beiden Liebenden verlieren sich in den Kriegswirren – beide halten einander für tot. Erst in den 70erJahren erfahren sie voneinander: Hannah lebt in New York, Tomasz nach wie vor in Polen. Beide haben sich nie vergessen...
In der Hauptrolle als junge Hannah, ist Alice Dwyer zu sehen. Die junge Schauspielerin ist dem Publikum unter anderem durch mehrere „Tatort“-Folgen und den Kinobesuchern zum Beispiel aus dem Film „Die Tränen meiner Mutter“ bekannt. Ein weiteres wohlvertrautes Gesicht ist Susanne Lothar im Part einer Frau namens Stefania. Die weiteren Rollen sind international besetzt: Neben Lena Olin (Hannah als Ältere), Lech Mackiewicz (Tomasz älter) und Mateusz Damiecki (Tomasz jung) spielen unter anderem Joanna Kulig, Pawel Burczyk und Adrian Topol.
Es schneit mit Hilfe der Feuerwehr Lüchow
In Szene setzt Regisseurin Anna Justice „Die verlorene Zeit“ nach einem Buch der Schriftstellerin Pamela Katz. Alle Handlungen, die in Polen spielen, werden in Niedersachsen gedreht – wie jetzt, voraussichtlich noch bis zum 4. Dezember, in Woltersdorf. Wie kommt ein Filmteam gerade auf diesen Ort, wenn es darum geht, ein polnisches Wohnhaus aus den 40erJahrern in dörflicher Umgegend zu finden? Für die Auswahl passender Drehorte, so Produzent Woldt, gibt es spezielle Leute in der Filmbranche: „Location Scout“ ist der Fachbegriff für diese Experten, die den Wünschen von Produktion und Regie entsprechend die geeigneten Objekte suchen und finden. Wie jetzt in Woltersdorf. Das zur Zeit nicht bewohnte Haus, von den Filmleuten vorübergehend gemietet, ist betagt. Das Dach kann sein Alter nicht verbergen, auch die Fachwerkfassade nicht. Über der Eingangstür haben die Requisiteure eine altertümliche Lampe geschraubt, die den 1944-Eindruck noch verstärkt. Im polnischen Dorf, in dem sich die beiden Liebenden bewegen, herrscht Winter – so will es das Drehbuch. Wie den Winter an einem 10 Grad warmen Novembertag nach Woltersdorf bringen? Mit Schnee! Der Schnee, für den man keine Wolken benötigt, ist rasch „gefallen“: An der gewünschten Stelle wird eine Folie ausgerollt, darauf kommt ein Wasser-Zellulose-Gemisch, das der echten weißen Pracht täuschend ähnelt. „Es ist eine Substanz, die sich biologisch abbaut und völlig unschädlich für die Umwelt ist“, erläutert Sven Woldt. Dankbar ist er für die Unterstützung durch die Freiwillige Feuerwehr Lüchow: Sie hat mit einem Fahrzeug 8000 Liter Wasser herangeschafft, das zum Herstellen des Kunstschnees erforderlich war.
Am Freitag war vor allem Innendreh im Haus angesagt: Allzu stark prasselte der Regen auf das Woltersdorfer Areal an der Dorfstraße, auf dem eine kleine „Filmstadt“ aus Last- und anderen Wagen aufgebaut worden ist. Vom rollenden Café („Latte Macchiato oder Cappuccino, oder... wir haben alles da!“) mit Salat- und Dessert-Buffet über den Bus für die Produktionsbesprechung bis hin zum Toilettenwagen – die Filmleute sind ziemlich autark an ihrem Arbeitsplatz. Übernachtet wird allerdings in der hiesigen Hotellerie. Nicht zum ständigen Film-Fuhrpark, der für solche Aufnahmen bei Spezialfirmen gechartert wird, zählt der große Rotkreuz-Krankenwagen, der am ersten Drehtag mit vor den Kameras stand: Das zur Zeit der Handlung passende historische Sanitätsmobil war gemietet, war mit einem Tieflader nach Woltersdorf gekarrt worden.
Und die Bevölkerung von Woltersdorf? Kommen viele Neugierige? „Nein“, sagt Produzent Woldt. Die Arbeiten verlaufen völlig ungestört – draußen wie drinnen. Außerhalb der Drehzeit übrigens, so bemerkt der Produzent, sorgt ein Security-Dienst für Sicherheit auf dem Gelände.
KZ-Szenen nicht in Lüchow-Dannenberg
Werden die KZ-Szenen auch in Woltersdorf gedreht? „Nein“, sagt Sven Woldt, „aber an einem Ort in Niedersachsen“. Der „Location Scout“ ist hier wieder gefragt. Auch in Hamburg wird wohl gedreht werden: Szenen, die im Zusammenhang mit einem Auswanderer-Schiff stehen. Ob auch ein Schiff zu sehen sein wird oder nur ein Pier – das sind Details, die noch nicht fest stehen. Für diese weiteren Dreharbeiten sind Mai und Juni 2010 vorgesehen. Das Drehen in Norddeutschland hat auch einen wirtschaftlichen Hintergrund: „Die verlorene Zeit“ wird gefördert, und zwar von der nordmedia Fonds, der Mitteldeutschen Medienförderung, der Filmförderung Hamburg/Schleswig-Holstein und dem Deutschen Filmförderfonds.
Für einige Szenen gehts nach New York
Doch auch fern von Deutschland muss das Filmteam an seinem Projekt arbeiten: Schließlich fliegt „Hannah“ nach Amerika – und die Filmleute folgen ihr, zum Drehen nach New York. Wie lange? „So kurz wie möglich und nur mit den dort notwendigen Leuten“ sagt Sven Woldt. Denn: Filmen in den USA ist teuer, nicht zuletzt durch die dort üblichen Bedingungen der Film-Gewerkschaft: Sie verlangt, dass ausländische Produzenten eine gewisse Anzahl amerikanischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Dreh beschäftigen. Und auch die Unterkunfts- und Verpflegungskosten sind am Hudson River wohl höher als an Elbe und Jeetzel.
Foto:© MediaPark GmbH / Alice Dwyer als junge Jüdin Hannah Silberstein