Manchmal, gar nicht so selten, genau genommen eigentlich fast immer muß man die ausgetretenen Pfade verlassen, will man etwas Außergewöhnliches erleben. Stefan Buchenau verließ die alte B5 bei Kyritz und folgte einem kleinen unscheinbaren Schild. Auf dem stand „Lügenmuseum“.
Wie sähe die Welt ohne Abweichler aus, ohne Menschen, die den ach so geraden Weg verlassen und sich seitwärts in meist eher unwegsames Gelände bewegen? Immer, wenn sich jemand solches traute, gab es Ärger. Der erste Bauer etwa, einer, der plötzlich anfing, Pflanzen und Land zu kultivieren, statt, wie die anderen, auf die Jagd zu gehen. Oder der – es könnte, wie in allen anderen Fällen, natürlich auch eine Sie gewesen sein – der, die, das anfing, Jagdszenen, Kämpfe mit anderen Stämmen, oder Visionen von Fabeltieren oder Göttern auf die Wände ihrer Wohnhöhlen zu malen – alle waren sie Pioniere, alle wurden mißtrauisch oder neidisch beäugt, und einige wurden gejagt, geprügelt, getötet. Die Liste ist lang. Dennoch begegnet man bis heute solchen Abweichlern.
Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade, aber wer von diesem Weg abweicht, der kann was erleben. Wer also die B5, die alte Transitstrecke Berlin-Hamburg, befährt, kommt bei Kyritz an einem unscheinbaren Wegweiser vorbei. „Lügenmuseum“ steht darauf. Wer dem Schild folgt, gelangt über eine DDR-typische Betonpiste in den Ort Gantikow. Und dort, „Am Anger 1“, zum alten Gutshaus. Das fällt hier, wo ansonsten besenreine Idylle herrscht, sofort ins Auge: ein heruntergekommenes, schloßartiges Gutshaus, mit seltsamen Fresken bemalt. Sie sollen, so Reinhard Zabka, Museumsgründer, Betreiber, Künstler, Kassierer, Putzmann und Öffentlichkeitsarbeiter in Personalunion, auf der einen Seite die Lüge, auf der anderen Seite die Wahrheit zeigen – nur ist in Vergessenheit geraten, welche Seite nun was darstellt. Das ist nur ein weiteres Rätsel an, in und um dieses durch und durch einzigartige Museum. Wenn es denn ein Motto hat, dann dieses: Die Lüge im Dienste der Wahrheit wäscht den Staub des Alltags von den Sternen.
Seit nunmehr 20 Jahren existiert das Museum, seit 1997 an diesem Ort, dem alten Gutshaus von Gantikow, einem 250 Seelen umfassenden Ortsteil von Kyritz. Zu DDR-Zeiten war hier der Kindergarten und das Gemeindebüro. Die Gründung des Museums geht, einer Legende nach, auf Emma von Hohenbüssow zurück – eine Elfjährige aus dem 19. Jahrhundert, deren Lebenstraum ein eigenes Museum gewesen sein soll. Es könnte aber auch sein, daß besagte Emma ein Huhn war, die eines Tages von Nachbars Schäferhund totgebissen wurde. So oder so befindet sich auf dem Gelände ein Gedenkstein, der sie als „Buttermilchterroristin“ ausweist.
Doch nun gehen wir rein und stehen in einer Art Kneipenraum mit Tresen, auf dem singt ein Fisch. Hier stehen diverse Schaukästen, ein Fernseher läuft und zeigt eine vergangene Kunstaktion, von der Decke hängt so allerlei. Der Eintritt kostet 4 Euro, also los. Während wir mit wachsender Verwunderung durch die Ausstellung schlendern – hier eine Kiste mit „Original Kyritzer Knatter“ öffnen, dort einigermaßen fassungslos „Willy Brandts Geburtszimmer“ samt offiziellem Briefwechsel mit dem Kanzleramt betreten, während also die Augen Mühe haben, all die Details zu erfassen und auch die Ohren zwischen Musikfetzen (Originalaufnahmen vom Sonnendeck der Titanic!) und den Arbeitsgeräu-schen zahlloser seltsamer Maschinen allmählich die fantasielose aber wahre Welt da draußen vergessen, kocht Richard von Gigantikow (wie sich Zabka auch nennt) einen echten Lügentee mit geheimnisvollen Kräutern aus dem eigenen Garten.
Inzwischen haben wir den „Fliegenden Teppich“ entdeckt und das „Vittoriale der Ostdeutschen“, sind von einem wild un-ter der Decke kreisenden Fuchs-schwanz gestreift und erschreckt worden und haben endlich das ultimative Bild für den „Aufschwung Ost“ gefunden: Pas-senderweise im Titanic-Raum lehnt eine alte Leiter, umkränzt mit Leuchtkettchen führt sie hinauf zu einem Loch in der Wand durch das im Sommer die Schwalben ein- und ausfliegen. Manchmal sitzt so ein Vogel auf der Kunst und läßt was fallen.
Reinhard Zabka ist einer dieser DDR-Abweichler und Querulanten, die der Obrigkeit und vielen braven Mitbürgern immer suspekt waren. („Schon vor der Wende fühlte er sich zu Höherem berufen, als einer normalen, täglichen Arbeit nachzugehen“, schreibt Dr. Joachim Pein in einem Leserbrief an die „Märkische Allgemeine Zeitung“ vom 26. Juli.) Doch in seiner Kunst, in seinen Aktionen hielt er sich offenbar an die Devise von Karl Kraus: „Eine Satire, die der Zensor versteht, wird zurecht verboten!“ Und so wurschtelte sich der 1950 in Erfurt Geborene durch die bunte, kreative Szene am Berliner Prenzlauer Berg, bis die Wende alles änderte. („Mit der Wende kam für ihn das Schlaraffenland. Ein freies Leben, ohne durch Arbeit zum Gemeinwohl beizutragen, war plötzlich weitgehend akzeptiert.“ Leserbrief Dr. Joachim Pein.) Ein altes Haus in Babe, nicht weit von Kyritz, war sein erstes Domizil, dann kaufte er das Gutshaus in Gantikow für 1 Euro von der Stadt Kyritz, die mit dem alten Gemäuer offenbar nichts mehr anzufangen wußte. Befreundete Künstler aus nah und fern halfen, malten Fresken, lieferten Objekte, ein paar tausend Besucher kommen Jahr für Jahr, und am 1. April feiern sie den Lügenball.
Das hätte also eine idyllische Erfolgsgeschichte werden können. Allein, es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn... Sagen wir mal so: Die unmittelbare Nachbarschaft steht nicht gerade „wie ein Mann“ hinter dem Museum und seinem querköpfigen Gründer. Bunt sind in dieser Idylle allenfalls die ordentlich begrenzten Blumenbeete, aber ein ganzes Haus oder gar sein Bewohner, sein Leben oder sein Anliegen? („Herr Zabka trampelt der Stadtverwaltung ungeniert auf der Nase herum und wird dafür auch noch großzügig belohnt...“, schreibt Gerhard Dorn, Vorsitzender des Ortsbeirats von Gantikow, in seinem Leserbrief an die „MAZ“ vom 20. Juli.)
Was kostet ein Museum? Oft sind Künstler leider keine so besonders gewieften Geschäftsleute oder gar Diplomaten – also ist die Geschichte des Lügenmuseums auch eine von Konflikten mit der Agentur für Arbeit über zweck-entfremdete Gelder (Streitwert 40 000 Euro) und dem folgenden Notverkauf an einen windigen, inzwischen unter Zwangs-verwaltung stehenden Verein namens „Of-fene Häuser“, der, unter dem Vorwand, Denkmäler zu schützen, eine Menge Immobilien aufkaufte, diese aber weiterhin verfallen ließ – ein Konflikt, der von außen schwer zu durchschauen ist. Vorläufiges Ergebnis: Das Lügenmuseum und sein Betreiber sind pleite, Hans Joachim Winter (CDU!), Bürgermeister von Kyritz, hat es immerhin gedeichselt, dem Museum einen Aufschub bis Ende Oktober zu verschaffen – und bezieht dafür Prügel in empörten Leserbriefen anständiger Bürger, etwa Olaf Lehmann, stellvertretender Stadtwehrführer, der im Leserbrief fordert, die 6 000 Euro besser in die Ausrüstung der Wehren zu investieren.
Zumindest in der veröffentlichten Lesermeinung der „MAZ“ gibt es kaum eine Stimme, die darauf verweist, was da für ein Schatz in der Nachbarschaft schlummert und was für ein Entwicklungspoten-tial für den weithin unbekannten Ort damit verbunden sein könnte. Da scheint nicht nur der auch hierzulande bekannte Konflikt zwischen alteingesessenen Bürgern und zugereisten Künstlern zu brodeln, sondern auch ein Streit über die Deutungshoheit für die noch nicht aus allen Köpfen verschwundene DDR. So mancher, der seine Datschenidylle durch dieses aufmüpfige Museum bedroht sieht, dürfte im früheren Leben des untergegangenen Landes eher zu den zufriedenen, angepaßten Bürgen gehört haben. Und jetzt tanzt ihnen so ein Kunstdissi-dent auf Nase und Lebenslügen herum und bekommt dafür auch noch Staatsknete!
Was also ist zu tun? Die Akademie der Künste/Berlin-Brandenburg ist alarmiert. Auch überregional reagieren Presse, Funk und Fernsehen. Künstlerkollegen wie der Maler Johannes Heisig versuchen ihr möglichstes. Es gab schon eine Finissage mit überproportional vielen Besuchern, bei der der vorläufige Aufschub verkündet werden konnte.
Was wird? Keiner weiß es zur Zeit. Vielleicht finden sich Menschen, die eine Stiftung gründen, vielleicht erkennen die regionalen Meinungsführer doch noch ihre Chance. Und wenn nicht? Dann sollten sich viele, viele und noch viel mehr auf den Weg nach Gantikow machen, um diese bunte Insel der aufmüpfigen Fantasie noch an dem Ort zu erleben, an den sie paßt und Wurzeln geschlagen hat: dieses verwunschene Gebäude, das wie ein Raumschiff wirkt, gelandet auf dem Parkplatz vorm Finanzamt. Und zumindest ich würde nicht ausschließen, daß dieses unglaublich formidable Lügenmuseum samt seinem vollkommen, aber positiv und kreativ verrückten Gründer kurz vor der Räumung tatsächlich abhebt und mit imposantem Feuerschweif dorthin verschwindet, wo man die Kunst der Lüge als Beitrag zur Wahrheit zu schätzen weiß. Ganz im Sinne eines der Sprüche, die überall an den Wänden hängen: Um ein kreatives Leben zu führen, müssen wir unsere Angst verlieren, unrecht zu haben. Joseph Chilton Pearce (den dürfen die geschätzten Leser selber googeln). Ansonsten: www.luegenmuseum.de
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