Seismogramm der Republik

Er schreibt in kurzen, präzisen Sätzen. Er schreibt 76 Kapitel auf 315 Seiten. Seine Figuren leben, viele von Ihnen könnten unsere Freunde und Bekannten sein. Die Hauptfigur in seinen Krimis heißt Georg Dengler. Dengeln bedeutet, eine stumpfe Klinge durch unermüdliches Hämmern zu schärfen – vorzugsweise Sensen und Sicheln. Helmut Koch über die Bücher von Wolfgang Schorlau.

  Die Fälle des Georg Dengler schärfen die Sicht des Lesers auf im Nebel der Vergangenheit verschwindende Vorfälle der bundesdeutschen Geschichte. Reale Vorfälle. Denn Wolfgang Schorlau schreibt nicht nur mitreißend, bildhaft und in gutem Deutsch – er transportiert vor allem historische Fakten, die, obwohl ungeklärt, ins Nachrichtensediment versinken, und die er deshalb in seinen „Fällen“ aufrührt und im Glossar penibel belegt.

Georg Dengler ist in Unfrieden aus dem BKA (Bundeskriminalamt) geschieden. „Private Ermittlungen“ steht nun auf seiner Visitenkarte, und der erste Fall verspricht leicht verdientes Geld. Dengler soll sich um jemanden kümmern, der vor zwölf Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Merkwürdig nur, daß er vorher seine Tochter angerufen und ihr gesagt hatte, er habe die Maschine verpaßt.

Realer Hintergrund: Am 21. April 1991 wurde Detlef Carsten Rohwedder, Präsident der Treuhandgesellschaft, erschossen. Seinem Tod folgte eine drastische Kurskorrektur der Treuhand und der Ausverkauf, die „Abwicklung“ des Ostens. Sechs Wochen nach dem Attentat stürzte eine „Lauda Air“-Boeing in den Dschungel Thailands; 223 Menschen starben. Im Juni 1993 wurde das RAF-Mitglied Wolfgang Grams auf dem Bahnhof von Bad Kleinen erschossen. Fast zehn Jahre nach dessen Tod behauptet das Bundeskriminalamt, Grams sei am Tatort des Mordes an Rohwedder gewesen. Tatsächlich wurden alle drei „Geschehnisse“ nie wirklich aufgeklärt.

Der Vermißte, den Dengler suchen soll, war Mitarbeiter der Treuhand und Verfasser einer „Blauen Liste“, ein Dokument für die Treuhand, das der Deutschen Vereinigung einen anderen Weg weisen sollte, als sie dann tatsächlich nahm. Hat da jemand am Rad der Geschichte gedreht, und wenn ja, wer? Damit muß sich Georg Dengler auf einmal auseinandersetzen.

Auch Schorlaus andere Krimis greifen vergessene Ereignisse auf. Im „München Komplott“ geht es um das größte politische Attentat der bundesrepublikanischen Geschichte: Während des Strauß-Kanzler-Wahlkampfs explodiert eine Bombe auf dem Münchner Oktoberfest. Die Medien haben die Täter sofort ausgemacht: Linke. Als sich die Hinweise auf Rechtsradikale verdichten, rutscht das Attentat aus den Schlagzeilen. Dies sind die Zeitpunkte, die für Schorlau interessant sind. Er befaßt sich mit dem Schicksal eines farbigen Bomber-Piloten, der in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs in Süddeutschland abstürzt; mit der Suche nach einem Afghanistan-Veteranen; mit dem Einsatz von „Geheim“-Waffen; mit dem Rohstoff Wasser; den Praktiken der Pharma-Industrie. Letztere sind das Thema des neuesten Falls: „Die letzte Flucht“. Wer das liest, möchte eigentlich sofort aus allen erdenklichen Krankenkassen austreten.

Wolfgang Schorlau zeigt uns unsere Republik, wie wir sie nicht so gern sehen möchten. In einem Nachwort schreibt er dazu: „Wenn Polizei, Justiz und Politik versagt haben, muß es den Geschichtenerzählern erlaubt sein zu sagen: Es ist nur eine Geschichte, aber vielleicht war es so.“

Das alles könnte langweilig, mit erhobenem Zeigefinger, als Verschwörungstheorie zu Papier gebracht werden. Doch Schorlaus spannende Geschichten liest man auf einen Sitz. Die Nachtruhe ist schnell dahin.

Eine Leseprobe aus „Die letzte Flucht“: „...Zwei Stunden später unterschrieb Dengler einen Arbeitsvertrag. Nun war er Anwaltsgehilfe. Angestellt bei der Kanzlei Lehmann & Partner. Morgen würde er mit Lehmann ins Gefängnis Moabit fahren und Voss besuchen. Den Mörder.

Den mutmaßlichen Mörder, verbesserte er sich. Schließlich war er Polizist. Ehemaliger Polizist, verbesserte er sich.

Der Polizeidienst hatte ihn mehr geprägt, als ihm recht war. Er wusste es. Einmal Bulle – immer Bulle. Alle anderen Fähigkeiten sind verkümmert. Alle außer einer: der Fähigkeit zur Menschenjagd. Das hatte er beim Bundeskriminalamt gelernt. Solange er Fahnder war, hatte ihn diese Spezialisierung nicht gestört. Aber jetzt, nachdem er resigniert das BKA verlassen hatte und als privater Ermittler arbeitete, fühlte er sich manchmal wie amputiert. Hochgezüchtet wie ein Windhund. Etwas fehlte ihm. Er wusste nur nicht, was es war.

Manchmal wünschte er sich, er hätte Talent zum Malen wie Mario, sein bester Freund. Mario entwarf seine Bilder manchmal in einem Zustand, den er den »kreativen Rausch« nannte. Er konnte dann bis in die frühen Morgenstunden vor der Leinwand stehen, ihm gelangen Kompositionen in Blau, Gelb, Rot, die Dengler faszinierten, ohne dass er genau begründen konnte, warum.

Er bewunderte Mario, weil er sich so für die Kunst begeistern konnte. Wenn er über Joseph Beuys sprach, einen der größten deutschen Künstler, so viel hatte Dengler gelernt, der soziale Plastiken erstellte, ohne dass Dengler recht begriff, wie diese Plastiken aussahen, dann glühten Marios Augen, er gestikulierte mit den Armen, lief dozierend im Zimmer auf und ab.

Dengler begeisterte sich für nichts. Er beherrschte die Menschenjagd. Mehr nicht. Manchmal machte ihm das zu schaffen. Aber ihm fiel nichts ein, wofür er sich begeistern konnte. Außer für Olga.

Dass diese Frau sich für ihn entschieden hatte, hielt er immer noch für eine Art Missver-ständnis ihrerseits. Er hatte keine Ahnung, was sie an ihm anziehend fand. Was hatte er ihr zu bieten? Er, der ein einziges Talent hatte und mehr nicht.

 

Irgendwann, da war er sich ganz sicher, würde sie ihren Irrtum bemerken und ihn verlassen. Dann würde die glücklichste Zeit seines Lebens vorbei sein. Er fürchtete sich vor diesem Augenblick, und er wappnete sich täglich dafür. Und doch gab es Augenblicke, in denen er sich ihrer Liebe sicher war. Seltene Augenblicke voller Süße. Beide behielten ihre Wohnung und dachten nicht daran, zusammenzuziehen, und doch hatte es sich eingebürgert, dass sie die meisten Nächte in Olgas Bett verbrachten. Warum auch nicht.“




2012-01-25 ; von Helmut Koch/ZERO (autor),

 

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