Weihnachten 1969. Da spuckte die Dampflok noch dicke Rauchschwaden aus, der Weihnachtsbaum wurde im Wald "organisiert" und die selbstgeräucherte Gänsebrust war die kulinarische Sensation der Feiertage.
[…]Der schwarz-weiße Norwegerpullover war gerade noch vor Weihnachten fertig geworden. Und dieses Mal hatte Mutter eine Wolle gefunden, die nicht permanent kratzte. Trotzdem hielt sich meine Freude in Grenzen. Ich habe es schon immer gehasst, im Winter soviele Dinge anziehen zu müssen: die rutschende und kratzende Strumphose, dicke Unterhemden, der obligatorische selbst gestrickte Pullover, dazu eine stramme Hose, die mit Gummischlaufen über die Füße gezogen wurde. Zusätzliche Socken, eine schwere Jacke sowie selbst gestrickte Mütze, Schal und Handschuhe gehörten ebenfalls zur winterlichen Kleiderordnung meiner Mutter. Die schweren Winterschuhe taten ihr Übriges, um mich wie der schwerfällige Bär aus dem letzten Weihnachtsmärchen zu fühlen.
Doch das war jetzt alles egal. Endlich durfte ich wieder den Koffer packen, denn es ging zurück nach Hause, zurück zu meinen Großeltern, bei denen ich vor kurzem noch gelebt hatte. Zurück in die Eifel, wo meine Freunde wohnten und der Wald direkt hinter dem Haus begann.
Bloß weg aus dieser Stadt, wo die Stahlwerke und die Kohleheizungen aus zahllosen Schornsteinen soviel Dreck in die Luft bliesen, dass der Himmel selbst an einem sonnigen Tag als gräulich-gelbe Glocke über der Stadt klebte.
Mit der Dampflok in den Schnee
Eigentlich wollte ich hier nie leben. Aber die deutschen Vorschriften ließen es nicht zu, dass Kinder bei den Großeltern aufwuchsen, wenn es Eltern gab. Also musste ich nach Bochum, zu meinen Eltern, die mich kurz nach der Geburt zu den Großeltern gegeben hatten. Vier Erwachsene, zwei Kinder und nch ein Baby - das war zuviel für die 2-Zimmer-Wohnung, in der Mutter mit ihrem Bruder, Mann und Schwager hauste.
Doch jetzt war Weihnachten und es ging mit der Eisenbahn in die tief verschneite Winterlandschaft der Eifel. Wir hatten es geschafft, ein Abteil ganz für uns alleine zu ergattern. Als der Kölner Dom in Sicht kam, hielt es mich nicht länger auf dem Sitz. Die Einfahrt in den Hauptbahnhof war jedes Mal eine Sensation. Immer dachte ich, der Zug würde nun unter den Kölner Dom fahren. Und jedes Mal war ich wieder erstaunt, dass die Bahnhofshalle neben und nicht unter dem Dom lag.
Mutter war genervt wie immer und stritt mit meinem Vater über irgendeine Banalität. Hatte er wirklich den Kühlschrank ausgestöpselt? War die Hauptsicherung herausgedreht? Dauernd hatte sie irgendwelche Katastrophenszenarien im Kopf. Und immer war mein Vater schuld. Er trugs mit Fassung und versenkte sich noch ein wenig mehr in seinen neuesten „Simmel“-Roman. Ich zog unterdessen den oberen Teil des Fensters herunter und streckte meinen Kopf so weit in die eisig kalte Luft wie nur irgend möglich. Besser erfrieren als diese ständige Nörgelei hören zu müssen.
Endlich kamen die Wälder der Vulkaneifel in Sicht und der Zug fuhr eine ganze Weile durch einen tief verschneiten Wald. Vorne stampfte die Dampflok und die Rauchwolke aus dem Schornstein nebelte den Zug ein. Ein dreifaches langes Tuten warnte an jeder Kurve und Straßenkreuzung vor dem herannahenden Zug. Andreaskreuze und Bahnschranken gehörten damals nicht unbedingt zum Standard der Straßensicherung.
Hausgemachte Köstlichkeiten und ein gestohlener Weihnachtsbaum
In der Wohnung meiner Großeltern wartete schon heißer Kakao und ein riesiger Stollen. Letzterer war wie jedes Jahr von den Verwandten in der „Ostzone“ geschickt worden – ebenso wie die geräucherte Gänsebrust von den pommerschen Großeltern. Nach der Flucht hatten sie sich im Ruhrgebiet in einem Schrebergartenhaus ihr kleines Selbstversorger-Refugium neu geschaffen. So wurde die selbstgeräucherte „pommersche Spickgans“ auch in der fremden neuen Heimat zur sehnlichst erwarteten kulinarischen Weihnachtssensation.
Nachdem Stollen, Spickgans und andere Leckereien aus dem Garten der „Bochum“-Großeltern verstaut waren, ging es an das nächste Weihnachtsritual. Ein Baum musste her! Großvater hatte auf seinen Spaziergängen schon eine stramm gewachsene Tanne ausgeguckt, die Heiligabend bei uns in der Stube stehen sollte.
Mit einer Säge und Handschuhen bewaffnet, zogen Vater und Großvater bei einbrechender Dämmerung in den nahen Wald, um den Baum zu holen. Warum zu diesem Ausflug niemand mit durfte, habe ich auch erst sehr viel später verstanden: es war verboten, sich selbst Bäume aus dem Wald zu holen. Ob diese „zivile Ungehorsamkeit“ der Grund war, warum Vater und Großvater aus Rostock fliehen mussten? Dort hatten sie dabei geholfen, im Betrieb Werkzeuge und Materialien vor den „Russen“ zu verstecken – bis ihnen wohlmeinende Nachbarn mitteilten, dass sie am nächsten Morgen die Stasi holen würde. Bei Nacht packte die ganze Familie ihre Koffer und flüchtete gen Westen. Das war 1957 gewesen. Ihre Eltern musste Großmutter zurücklassen, sie wollten nicht mit.
Von alldem wussten wir Kinder an diesem Weihnachtsfest noch nichts. Begeistert packten wir all die kleinen Kartons aus, in denen einige sorgfältig in Seidenpapier gehüllte Glaskugeln auf ihren nächsten Weihnachtseinsatz warteten. Der ganze Stolz meiner Mutter! Sie hatte zwar von den heimischen Kugeln nichts mitnehmen können. Aber immer hatte sie ein paar Mark zurückgelegt, um sich jedes Jahr eine neue Kugel kaufen zu können. Inzwischen war die glitzernde Sammlung wieder auf 12 Kugeln angewachsen.
Doch vor ihrem glänzenden Auftritt an der Weihnachtstanne mussten Haken ausgetauscht, Lamettafäden entwirrt, die in der Schule gebastelten Strohsterne gerichtet und die Kerzenhalter nach bestimmten (!) Regeln am Baum angebracht werden .
Dann kam meine Hauptaufgabe: die Lampe in der Krippe zum Leuchten bringen! Jedes Jahr aufs Neue machte die kaum 3 cm große Laterne Mucken. Aus unerfindlichen Gründen klappte der Kontakt zwischen der großen Blockbatterie und den beiden Kupferkabeln nicht. Bevor ich zum Zuge kam, versuchten es – auch dies ein alljährliches Ritual – nacheinander Vater, Großvater und Mutter. Laute Diskussionen darüber, wie die Kabel angebracht werden müssen, begleiteten die Versuche. Erst nachdem alle vom Streiten und Versuchen erschöpft waren, kam meine Stunde. Und mir gelang es jedes Mal, die Laterne zum Leuchten zu bringen!
Mit Tchibos Weihnachtsheftchen durch den Heiligabend
Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen. Die Weihnachtstorte stand auf dem Tisch und frisch gebrühter Kaffeeduft zog durch die Wohnung. Jetzt war die Zeit für die Tchibo-Weihnachtsheftchen gekommen. Denn kurz vor dem Fest war das Neueste mit dem Weihnachts-Kaffeepaket angekommen.
Eifrig wurden die bunten Seiten durchgeblättert und das schönste Lied ausgesucht. Es war mein Job, mit der Blockflöte die Melodie vorzuspielen, damit alle mitsingen konnten. Erst nachdem mindestens drei Lieder gesungen und gespielt worden waren, ging es an die Bescherung.
Wir Kinder wurden ins kalte Schlafzimmer verbannt, bis eine Glocke und ein dumpfes Klopfen an der Tür uns wieder herauslockten. Mit einem brummigen „Ho, ho ho“ stand dort der Weihnachtsmann mit einem großen Sack über der Schulter. Paket für Paket holte er heraus und übergab sie dem Beschenkten – nicht ohne deftige Sprüche. Warum meine Großmutter bei seinen Bemerkungen so verschämt kicherte, ahnte ich nur dunkel.
Inmitten unglaublicher Berge an Papier, Schleifen und Geschenkkärtchen ging der Abend dann weiter. Mutter seufzte immer wieder tief auf und erzählte vom Gänsehüten in Pommern. Großmutter kicherte und forderte immer wieder „Giv“ mi ma noch’n Köm“. Vater und Großvater hatten sich ebenfalls die Flasche „Lehments echter Rostocker Doppelkümmel“ herübergezogen und sinnierten melancholisch vor sich hin. Urgroßvater, der die Flasche geschickt hatte, hatte auch dieses Jahr nicht ausreisen dürfen.
Für mich war Urgroßvaters neuestes Weihnachtsgeschenk der Grund, früh ins Bett zu gehen. Dieses Mal hatte er ein Buch über die Erlebnisse eines kirgischen Jungen geschickt, der in einem Aul im Altai-Gebirge lebt. Von Ferne hörte ich das Kichern meiner Großmutter und fröhliches Geplapper. Bis dann eine Tür knallte. Auch das ein Weihnachtsritual: nach diversen "Köm" und süßem Wein war meine Mutter irgendwann sturzbeleidigt und verschwand ins Bett.
Den Rest der Nacht träumte ich von sonnigen Hügeln und rot leuchtenden Äpfeln, die mir freundliche alte Frauen mit bunten Kopftüchern über den Holzzaun reichen.
Foto | privat: Das obligatorische "Weihnachtsfoto mit Großeltern"