Einige Tage Frieden wünschen wir allen Bewohnern dieses Landkreises, insbesondere denen, die ihre Angehörigen in Krieg und Chaos zurücklassen mussten. Zur Erinnerung daran, wie brüchig Frieden sein kann, ein Gedicht von Kurt Tucholsky aus dem Jahre 1913.
Groß-Stadt Weihnachten
Nun senkt sich wieder auf die heim'schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.
Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glasé.
Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
auf einen stillen heiligen Grammophon.
Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,
Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
»Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«
Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,
mag es nun regnen oder mag es schnein,
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.
So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden ...
»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«
Theobald Tiger / in: Die Schaubühne, 25.12.1913
(Hintergrund: das Jahr 1913 war geprägt von Kriegen der Balkanstaaten mit dem Osmanischen Reich, welches sich damals von Bulgarien, Albanien, dem Nahen Osten bis nach Kleinasien erstreckte. Im Juni des Jahres war zwar unter europäischer Vermittlung von u.a. Deutschland, Russland, Frankreich und Italien ein Friedensvertrag geschlossen worden, der aber keine drei Monate hielt.
Als dann im Juni 1914 der österreichische Thronfolger ermordet wurde, begann kurz darauf der erste Weltkrieg, an dessen Ende das Osmanische Reich seine Macht im Nahen Osten und Kleinasien verloren hatte.)