Die Zeiten, in denen die Hitzackeraner alljährlich Stege aufbauen mussten, um die Häuser auf der Stadtinsel gegen das einlaufende Wasser zu schützen, sind längst vorbei. Nach der großen Flut im Sommer 2002 - gefolgt von teilweise noch höheren Wasserständen in den Jahren 2006 und 2010 - stellte das Land Niedersachsen fast 40 Mio. Euro bereit, um längs der Elbe effektive Hochwasserschutzmaßnahmen umzusetzen. Seitdem schauen die Elborte jeder neuen Flut relativ gelassen entgegen - auch wenn die Schreckenstage im Jahre 2002 bei der Ankündigung eines neuerlichen Hochwasser immer noch bei vielen Anspannung auslösen.
Im August 2002 traf das anrollende Hochwasser noch auf ein weitestgehend unvorbereitetes Land. Erst als Mitte August die katastrophalen Bilder aus Grimma und Dresden durch die Medien gingen, wo ganze Ortschaften durch schlammige Fluten niedergerissen wurden, dämmerte es allen Elbanliegern, dass eine bisher nicht erlebte Flutwelle auch Lüchow-Dannenberg erreichen würde.
Nur fünf Tage Zeit, Entscheidungen zu treffen
Ganze fünf Tage blieb Zeit, sich auf das anstürmende Wasser vorzubereiten. Erste Krisensitzungen wurden im Kreishaus abgehalten, in denen zunächst noch beruhigende Prognosen verkündet wurden. Doch je näher das Wasser kam, drang die Erkenntnis durch, dass es massive Probleme geben würde.
Schnackenburg, Vietze, Laasche, Holtorf, Hitzacker, Neu Darchau ... die Liste der Orte, die vom anrollenden Hochwasser bedroht waren, nahm kein Ende. Dazu kamen unzählige Deichstellen, von denen die Oberen wussten, dass sie einem starken Wasserandrang, der womöglich mehrere Tage oder gar Wochen anhielt, nicht standhalten würden.
Die Orte auf dem Höhbeck standen zum Beispiel vor der Situation, dass ihnen südwestlich die Verbindungswege durch Hochwasser zwischen Vietze und Meetschow versperrt war und nördlich das Sielwerk in Restorf zu brechen drohte, so dass die Angst umging, womöglich für Tage gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.
Das Dorf Laasche, welches sich jahrelang um einen effektiven Deichschutz nicht gekümmert hatte, wurde von den Wassermassen eingeschlossen. Eiligst wurden in letzter Sekunde Wohnwagen und Zelte vom tief gelegenen Campingplatz entfernt - während andere Wohnwagenbesitzer nicht glauben mochten, dass das Wasser tatsächlich so hoch steigen würde, dass ihre Feriendomizile gefährdet waren. Doch diese Skeptiker wurden schnell eines Besseren belehrt: Laasches Dorfstraße versank über einen halben Meter unter Wasser, der Campingplatz wurde vollständig überflutet.
Gartows Bürgermeister hatte in der entscheidenden Krisensitzung noch versucht, Hilfe für Laasche zu organisieren, doch angesichts der unzähligen Orte und Stellen, die intensiven Einsatz erforderten, um eine Überflutung des Hinterlandes zu verhindern, war die Entscheidung, dass die Helfer nicht in dem kleinen Ort am Laascher See gebunden werden sollen, bitter schnell getroffen. Eine Entscheidung, die noch jahrelang für heftigen Streit zwischen den Laaschern und der Samtgemeindeverwaltung führte.
Doch alle, die bei der Sitzung dabei waren, wurde schlagartig schmerzlich klar, dass in einer echten Krisensituation, in der die Kräfte nicht ausreichen, um allen problematischen Stellen zu helfen, bittere Entscheidungen getroffen werden (müssen), die die einen zu Opfern und viele andere zu Geretteten machen.
Sonntag, 18. August 2002 - Ausrufung des Katastrophenalarms
Hitzacker stand längst unter Wasser, Laasche ebenfalls ... in der Jeetzel staute sich das Wasser, konnte nicht mehr abfliessen und sorgte so auch im Hinterland, z.B. bei Dannenberg, für Überflutungen. In unzähligen Orten schufteten Einwohner und Helfer, um Überflutungen zu verhindern. Die Gemeinden hatten eiligst Sand und Säcke bereitgestellt, um den Bewohnern die Gelegenheit zu geben, ihre Häuser wenigstens notdürftig zu schützen. Doch die Menschen in der Region kamen alleine nicht mehr zurecht, die Kräfte versagten. Hilfe von außen war dringend notwendig.
Die Flut brachte auch neue Worte mit sich, mit denen vorher nur die Eingeweihten hantierten: die "Ausrufung des Katastrophenfalles" war zum Beispiel so ein Begriff. Wer wusste schon vor der Flut, dass nur, wenn der Landrat den Katastrophenfall feststellt, die Hilfe von Bundeswehr und überregionalen Hilfsorganisationen wie dem THW angefordert werden kann? Am Sonntag, dem 18. August um 16 Uhr stellte Landrat Dieter Aschenbrenner eben diesen Katastrophenfall fest. Ein Katastrophenstab war im Kreishaus schnell eingerichtet, ebenso wie in den zuständigen Abteilungen der Polizei und der Wasserwirtschaft, in der damals noch existierenden Bezirksregierung in Lüneburg sowie im Innenministerium in Hannover.
500 Soldaten der Bundeswehr, unterstützt von Soldaten aus Großbritannien und Holland reisten an, um an den kritischsten Stellen bei brütender Hitze Sand zu schaufeln, Säcke zu befüllen und sie an maroden Deichstellen aufzubauen. Tage- und nächtelang schufteten die Männer, unterstützt natürlich auch von den örtlichen Feuerwehren, zum Beispiel an der Holtorfer Stege, um wieder aufbrechende Löcher zu stopfen und den aufgeweichten Deich zu halten.
Kolonnen von Mannschaftswagen und Tausende Polizisten, die die Straßen zwischen Dannenberg und Gorleben bevölkern, war die wendländische Bevölkerung zwar schon von den Castortransporten gewöhnt, doch nun beherrschten Bundeswehrfahrzeuge, Soldaten, durchfahrende Bergepanzer und technische Einsatzfahrzeuge des THW das Straßenbild.
Mitten im Hochsommer sah man harte Kerls mit nackten Oberkörpern durch die Seegeniederung staken, ihre unter Wasser arbeiteten Taucherkollegen unterstützend, die versuchten, ein defektes Sielwerk von unten zu reparieren.
Und gleichzeitig bot die überflutete Landschaft längs der Elbe unter der strahlenden Sonne des Hochsommers ein derart idyllisches Bild, dass der Kontrast zwischen Katastrophe und Idylle kaum zu fassen war. In Lüchow-Dannenberg kam die Flut nicht als stürmende, schlammige, alles niederwalzende Druckwelle daher. Nein, die Katastrophe war leise: nur zentimeterhoch stand das Wasser zum Beispiel an der Vietzer Dorfeinfahrt, die Seegeniederung war ein einziges blaues Wassermeer, aus der einige Büsche ragten. Aber ein Blick auf die nackten Füsse zeigte, dass die Idylle nicht statisch war: mit leichtem, doch nicht nachlassendem Druck spülte immer mehr Wasser von der Seege her über die Straße, sorgte Millimeter für Millimeter für immer höheren Wasserstand.
Viele Einwohner halfen bis zur Erschöpfung ihren Nachbarn, Sandsäcke zu befüllen - andere, die nicht so kräftig waren, versorgten die Helfer mit Nahrung und Getränken. Eine vorher nie erlebte Solidarität durchflutete den Landkreis.
Und auch die Besserwisser hatten ihre gloriosen Tage. Wie viele selbst ernannte Hochwasserexperten waren plötzlich auf den Dorfstraßen zu finden, die genau wussten, was zu tun ist: zum Beispiel ging der Rat um, an den tiefsten Stellen die Gullys abzudichten, damit "die Scheisse nicht durch die Klos hochgedrückt wird."
Und auch ein anderes neues Wort machte die Runde - "Katastrophentourismus": Vor allem an den Wochenenden behinderten Tausende Schaulustige die Hilfsarbeiten, extra angereist, nur um die Hilfsarbeiten zu beobachten und zu fotografieren. Besonders Brücken mit gutem Überblick über die Elbe waren ein beliebtes Ziel. Ein großes Ärgernis für Hilfskräfte und Einwohner, die sich teilweise vorkamen wie im Zoo.
Die meisten der brüchigen Deichstellen konnten durch den intensiven Hilfseinsatz gehalten, so katastrophale Schäden wie in Grimma und anderen weiter flussaufwärts gelegenen Orten verhindert werden. Doch die Regulierung der Schäden kostete auch in Lüchow-Dannenberg Millionen.
Neues Denken durch die Katastrophe
Nach dieser "Jahrhundertflut" sollten noch weitere folgen, die in ihrer Höhe die Flut von 2002 sogar noch übertrafen. Doch diese, die Flut im August 2002, hatte in vielen verantwortlichen Köpfen dafür gesorgt, dass die Gefahren durch auflaufende Hochwasser seitdem sehr viel ernster genommen werden als zuvor. Seitdem gilt nicht nur in Niedersachsen "Hochwasserschutz" als ein Thema von Priorität - auch wenn die Wege zu einem effektiven Schutz bis heute umstritten sind.
Während vor allem Naturschützer immer wieder einfordern, dass den Flüssen mehr Raum gegeben wird, setzen andere allein auf die Verstärkung von Deichen. Auch die Verbuschung im Elbvorland führt bis heute zum Streit. Hydrologen können sich nicht einigen, wieviel Einfluss die massiven Weidengruppen an den Elbufern nun wirklich auf den Hochwasserabfluss haben.
Doch immerhin: die Kontrahenten nähern sich einander an und es setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass ein so langer Fluss wie die Elbe, die durch zwei Länder sowie mehrere Bundesländer fließt, nur durch ein gemeinsames Management einerseits naturnah erhalten und gleichzeitig so "verwaltet" werden kann, dass sie nicht zur Gefahr für Mensch, Landschaft und Ortschaften wird. Inzwischen gibt es gar einen Staatsvertrag über die transnationale Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Elbe - wenn auch die Verbindlichkeit dieses Vertrages bis heute zweifelhaft ist und nicht nur bei den Grünen auf Kritik stößt.
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Im Hitzackeraner Museum "Altes Zollhaus" erinnert vom 24. August bis zum 14. September eine Fotoausstellung an die "Jahrhundertflut" vor zehn Jahren. Eine ausführliche Dokumentation der Flut ist dort ebenfalls erhältlich.