Thema: theater

Absurder Kampf gegen eigene Hinterlassenschaften

Am Freitag hatte die neueste Produktion der Freien Bühne Wendland in Mammoissel Premiere. "Die abenteuerliche Reise zum Mittelpunkt der Randgebiete" erntete begeisterten Applaus.

Mit Zivilisationskritik, tiefschürfenden Überlegungen zur Sinnhaftigkeit des Seins aber auch absurder Situationskomik wartet das neue Stück "Die abenteuerliche Reise zum Mittelpunkt der Randgebiete" auf. Autor Christian Saak gelang mit der Collage aus Schauspiel, eingesprochenen Texten und Musik ein eindrucksvolles Stück mit poetischer Kraft. (zum Inhalt siehe auch wnet-Artikel "Gefangen in der Leere" )

Was passiert mit der Seele, wenn sie sich nur noch mit sich selbst austauschen kann? Enthält das Nichts wirklich nichts? Ist Leben in der gewohnten Zivilisation wirklich ein erstrebenswertes Ziel? Existenzielle Fragen, die Saak nicht beantwortet, über die sein Protagonist Herr Y jedoch unablässig nachdenkt. Und was passiert, wenn ein braver, anständiger Bürger sich selbst ausgeliefert ist?

Ein Bühnenbild aus altem Kühlschrank, Metallschrott und verrotteten Bruchstücken eines "gemütlichen" Heims untermauert noch zusätzlich die Sinnlosigkeit zivilisatorischer Errungenschaften, wenn nichts mehr bleibt als Erinnerung und das pure Sein.

Mit seinem Stück geht Saak weit über das alltägliche "Wie geht es mir heute" hinaus - wenn er auch manchmal in die Banalität abrutscht. Wenn es sich der brave Bürger im Strandstuhl gemütlich macht und Platitüden über den gelungenen Urlaub von sich gibt, so hat das - zumindest auf den ersten Blick - keinerlei Erkenntniswert. Allerdings: in einer späteren Szene verweigert eben dieser Normalbürger wahrzunehmen, dass in der Nachbarschaft gerade ein terroristischer Anschlag stattfindet. Man hat ja schließlich bezahlt und die Reisegesellschaft hat einem Sicherheit zugesagt. Da will man doch seinen Urlaub genießen - was aber schnell sein tödliches Ende findet.

Lennart Müller als einziger Schauspieler schafft es souverän, die Bühne zu füllen. Mühelos schlüpft er in die verschiedensten Rollen wie z.B. ein Wissenschaftler auf der Suche nach "diesen sagenhaften Quellen der Langeweile" - der allerdings nur Kakerlaken findet.

Aber auch die extremen Gefühlszustände, durch die Herr Y wandert, gestaltet Müller intensiv und glaubwürdig. Bedauerlich nur, dass die per Lautsprecher eingespielten Stimmen durch ihre Lautstärke soviel Dominanz gewinnen, dass das nicht technisch verstärkte Spiel von Müller etwas in den Hintergrund gerät.

Andererseits entwickeln diese unsichtbar bleibenden Stimmgespenster einen regelrechten Sog, dem auch Herr Y sich  nicht entziehen kann. Wenn ein melancholisch und abgeklärt daher wehender Wind (grandios gesprochen von Christa Tornow) seine Weisheiten verkündet, versinkt die restliche Szene. Der Wind aber auch das schizophrene Tier mit mehreren Köpfen oder eine penetrant gut gelaunte Sonne erscheinen wie Einbildungen eines in der Einsamkeit zunehmend wahnhaften Geistes.

Wenn sich am Ende die menschlichen Fäkalien "organisiert" haben, weil sie die Weltherrschaft anstreben, dann ist der letzte Kampf von Herrn Y gekommen. Oder doch nicht? War alles nur der Fiebertraum eines Zivilisationsmüden?

Entstanden ist das Stück im Wendland - nicht ohne Grund. Denn das ländliche Abseits "ist derjenige Ort, an dem Stromverteilerkästen und Kunst ihre größte Wirkung entfalten können," beschreiben die beiden auf der Crowdfunding-Seite nordstarter.org ihr Projekt. "Da wir hier andauernd mit dem Anderen, also mit dem, was nicht wir sind, zu tun haben (z.B. Wald, Nebel, Kraniche, Horizont, Einsamkeit), haben wir uns entschieden, genau über diese Grenze ein Theaterstück zu inszenieren. " 

Insofern ist "Die abenteuerliche Reise zum Mittelpunkt der Randgebiete" auch eine Identitätssuche von Grenzland-Bewohnern. 

Das Stück läuft zwar unter dem Dach der Freien Bühne Wendland, wurde allerdings von Saak und Müller selbst produziert. Mit dem durch das Crowdfunding errungene Geld soll "Maxim Gurkis Prachtasyl" in der alten Scheune in Mammoissl weiter zum Theaterort ausgebaut werden. 

Die nächsten Aufführungen finden zur Kulturellen Landpartie in Mammoissel statt. 

Foto / Screenshot aus dem youtube-Trailer zur Premiere.




2016-04-10 ; von Angelika Blank (autor),
in Mammoißel, 29487 Luckau (Wendland), Deutschland

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