Was tun, wenn die Lust auf Hühnersuppe + frische Eier über Supermärkte guten Gewissens nicht mehr zu befriedigen ist? Getreu dem Motto "Wer glückliche Hühner will, muss sich selber darum kümmern!" greift eine Dorfinitiative in Vietze nun zur Selbsthilfe. wnet begleitet das Projekt ab sofort mit einem Themen-Blog.
Seit Monaten stieg das schlechte Gewissen immer mehr, wenn wieder einmal die Lust auf Hühnerbeine die hehre Absicht zunichte machte, nie wieder Hühnerfleisch aus Qualhaltungen zu kaufen.
Bilder von eng zusammen gestopften Hähnchen, die in kürzester Zeit mit Hilfe von Antibiotika und anderen Masthilfen zu "Sonntagshähnen Klasse Ia" heran gezogen werden, um dann möglichst billig an den Handel verkauft zu werden - nicht zu vergessen die Medikamentenskandale - haben die Lust auf Coq au vin oder einer kross gebratenen Hähnchenkeule gen Null sinken lassen.
Ein kleiner Überblick in Sachen Preise:
In Österreich betrug der Preis für "Masthühner, bratfertig, frei Filiale" im Jahre 2011 205,00/100 kg. D.h., ein Huhn mit seinen durchschnittlichen 1000 g wurde für 2,05 € an den Handel geliefert. Ein lebendes Huhn wurde im gleichen Jahr für ca. 0,90 Cent weiter verkauft.
Für den Agrarmarkt in Nordrhein-Westfalen wurde der Erzeugerpreis "Masthähnchen/Deutscland, Leichtmast 1500 g" für die Woche bis zum 22. Januar 2012 mit 0,925 Cent/kg Lebendgewicht angegeben.
Ein bratfertiges Huhn für 2,00 Euro? Da wird schon angesichts der Erzeugerpreise klar, dass Landwirte, die sich für Masthähnchenzucht entscheiden, nur dann eine Überlebenschance haben, wenn sie erstens Masse liefern. Das geht wiederum nur, wenn sie die späteren Grillhähnchen so schnell wie möglich auf Verkaufsgröße bringen.
Eine derartige Massen-Turbozüchtung muss mit Medikamenten und Antibitioka arbeiten, um Krankheiten aus den eng besetzten Ställen (besser: Hallen) fern zu halten - zumal Antibiotika auch als Masthilfe dienen.
Wir haben es satt!
Was also tun? Biohühner werden in der Region für rund 20,- Euro das Stück gehandelt und sind außerdem rar gesät.
Die Konsequenz, dann eben gar kein Huhn mehr zu essen, kommt nicht für Jeden in Frage und ist für Manchen ein Verzicht, der den Fastenvorschriften der Katholischen Kirche nahe kommt.
Beim Wein und leckerem Wildfleisch aus heimischen Wäldern kam dann in nachbarlicher Runde die Idee auf, die Versorgung mit Hühnerfleisch (und frischen Eiern) in die eigenen Hände zu nehmen:
Wir gründen einen Hühnerstall!
Sponsoren für das Projekt waren schnell gefunden. Die Aussicht, demnächst Zugriff auf Hühner zu haben, die - wie früher auf den Höfen üblich - sowohl Fleisch als auch Eier liefern, ließ die Brieftasche schnell ganz offen werden ... Rückzahlung und Zinsen werden in Fleisch und Eiern nach vorher festgelegten Werten abgerechnet.
Ein Platz im Garten war auch schnell gefunden, ebenso wie ein kräftiger Handwerker, der sich - ebenfalls beflügelt von der Aussicht auf frische Eier und Hühnerfleisch - schnell bereit erklärte, Stall und Zaun zu bauen.
Nun wird es ernst!
Nach weiteren zwei - drei Flaschen Rotwein war man sich schnell einig:
1. Wir wollen keine Hybridhühner (diese sind für die eigene Nachzucht nicht geeignet, es müssten also alle Jahre neue Hühner vom Großhandel gekauft werden, deren Aufzuchtbedingungen wir nicht kennen)
2. Gesucht werden also sogenannte "Zweinutzungshühner", die sowohl ausreichend Fleisch ansetzen als auch eine befriedigende Anzahl an Eiern liefern. Es gilt also, geeignete Rassen zu finden. Schon beim Gespräch darüber flogen diverse, auf den ersten Blick exotische Begriffe über den Tisch: Wyandotte, New Hampshire, Vorwerk, Westfälische Totleger .... Welches ist das beste Zweinutzungshuhn? Und wo kommen die Junghühner her?
3. Gefüttert wird nur mit "reinem" Futter wie Getreide und Grünzeug. Auch wieder eine Herausforderung: Gibt es zum Beispiel nicht-genveränderten Futtermais bzw. -Getreide?
Ernüchternde Zahlen
Schnell war aber auch die ernüchternde Erkenntnis da, dass auf der zur Verfügung stehenden Fläche (und den vorhandenen Kapazitäten) maximal 30 Hühner gehalten werden können. Wenn alles optimal läuft, könnte zweimal pro Jahr geschlachtet werden. Es stehen also pro Jahr voraussichtlich lediglich 40 Masthähnchen zur Verfügung.
Nur mal spaßeshalber durchgerechnet: Um die Höhbecker (rund 500 Einwohner) so mit Hühnerfleisch zu versorgen, dass Jede/r einmal monatlich ein Huhn essen kann, müssten wir pro Jahr 6000 Hühner schlachten. Diese kleine theoretische Rechnung gibt zu denken: um die aktuell 81 Mio. Einwohner Deutschlands so mit Hühnerfleisch zu versorgen, dass sie einmal pro Monat in den Genuss von Huhn kommen, müssten 972 000 000 Masthühner auf den Markt gebracht werden!
Das kommt den vom Zentralverband der Geflügelzüchter Deutschland veröffentlichten Verbrauchszahlen recht nahe: Demnach betrug der Pro-Kopf-Verbrauch an Hähnchenfleisch in Deutschland im Jahre 2009 11,3 kg bzw. 926 000 Tonnen.
Angesichts dieser gigantischen Zahlen wird das "Autonomes Vietzer Huhn"-Projekt ein Selbstversorger-Projekt bleiben (müssen) - aber womöglich ein Modell zum Nachmachen?
Im Frühjahr sollen die Hühner einziehen
Bereits im Frühjahr sollen die ersten Hühner in das "Autonomes Vietzer Huhn" - Gemeinschaftsheim einziehen. Bis dahin ist noch einiges zu klären: Wie groß muss der Stall sein? Materialien für Stall und Zaun müssen herangeschafft, die rechtlichen Bedingungen geklärt werden. Ausserdem müssen die geeigneten Hühnerrassen ausgewählt und Lieferanten gefunden werden.
Dann kommt der Alltag eines Hühnerhalters: Törchen auf, Törchen zu, Schutz vor Iltis, Marder und Fuchs, Futterbeschaffung, Reinigung, Milbenvorsorge und, und, und ...
Doch was hunderte Jahre in den Dörfern selbstverständlicher Alltag war, muss auch uns nicht schrecken ... Die Hühnerhaltung war nicht die anstrengendste Aufgabe unserer Großeltern.
+++ wir werden in unserem "Autonomes Vietzer Huhn"-Blog regelmässig über den Fortgang des Projektes berichten +++
Foto: Küken von Vorwerk-Hühnern, einer alten Haushuhnrasse, die seit 1900 als sogenanntes "Zweinutzungshuhn" in ganz Europa Verbreitung fand. / Dr. Lukanov/wikipedia.de