Wie die bereit gestellten Wasserwerfer, so gehören auch die Kamera-Wagen der Polizei zu jedem Castor-Szenario. Via Video können die Beamten all das, was auf Straßen und Plätzen während einer Demonstration geschieht, in die Einsatzzentrale übertragen. Sollten die Polizisten dies während einer friedlichen Demo tun, ist ihr Handeln nach Ansicht des Berliner Verwaltungsgerichts nicht zulässig.
Das entsprechende Urteil (Aktenzeichen VG 1 K 905.09), welches das Gericht am Dienstag veröffentlichte, könnte durchaus nicht nur für die Hauptstadt, sondern für ganz Deutschland wegweisend sein - zumindest könnte es Demonstrantinnen und Demonstranten ermutigen, per Klage gegen die Überwachung durch Polizeikameras während friedlicher Demos vorzugehen. Wie das Berliner Verwaltungsgericht entschied, stellt das Beobachten einer Versammlung durch die Polizei mittels Kameras und die Übertragung der Bilder in die Einsatzleitstelle ohne die Einwilligung der Versammlungsteilnehmer einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar, die das Grundgesetz (Artikel 8, Absatz 1) garantiert.
Auch werde das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt, das ebenfalls durch das Grundgesetz geschützt ist (Artikel 2, Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz1). Ein solcher rechtswidriger Eingriff liege auch dann vor, wenn die Aufnahmen nicht gespeichert werden. Mit dieser Begründung hatte das Verwaltungsgericht der Klage der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg und eines Demo-Teilnehmers stattgegeben, welche die Rechtswidrigkeit des polizeilichen Vorgehens gerügt hatten.
Präsenz der Kameras kann einschüchtern
Im Verfahren ging es um die Großdemo am 5. September 2009, zu der die BI und verschiedene andere Gruppen aufgerufen hatten. Diese Demo wurde durch die Polizei von einem Kamerawagen aus beobachtet, Die Aufnahmen überspielten die Beamten im so genannten "Kamera-Monitor-Verfahren" direkt in die Einsatzleitstelle. Gespeichert wurden die Aufnahmen nicht. Der Berliner Polizeipräsident begründete die Aufnahmen: Es sei notwendig, sich in der Leitstelle "ein Bild der Lage vor Ort" zu machen und gegebenenfalls verkehrslenkende Maßnahmen vorzunehmen.
Die Kläger meinten dagegen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Demonstration würden durch die Präsenz der Polizeikameras eingeschüchtert und wegen des Gefühls des Beobachtetseins möglicherweise sogar auf eine Teilnahme an der Demo verzichten.
Eingriff in die Versammlungsfreiheit
Die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin ist der Argumentation der Kläger gefolgt. Das bloße Beobachten und Anfertigen von Übersichtsaufnahmen durch die Polizei, verbunden mit der Möglichkeit des gezielten Heranzoomens einer Demo-Teilnehmer, sei ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit. Der einzelne Teilnehmer könnte tatsächlich durch das Gefühl "ich werde beobachtet" eingeschüchtert und vom Mitmachen bei der Demonstration abgeschreckt werden.
Die Menschen, die bei der Demo mitgehen, könnten nicht erkennen, ob die Aufnahmen nur in die Leitzentrale gesendet werden oder ob die Polizei die Daten speichere, also eine Video-Aufzeichnung anlege. Darüber hinaus liege auch ein Eingriff in das Recht auf informelle Selbstbestimmung der Versammlungsteilnehmer vor. Für das beklagte polizeiliche Handeln sei eine gesetzliche Rechtsgrundlage erforderlich, die das geltende Versammlungsrecht in Berlin jedoch nicht vorsehe.
Bei "Gefahren" darf die Polizei filmen
Das Urteil bezieht sich allein auf friedliche Demonstrationen. Wenn jedoch - so heißt es im auch für Berlin geltenden Bundesversammlungsgesetz - "von den Teilnehmern erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht", dürfen die Beamten durchaus zur Kamera greifen und die Aufnahmen übertragen.
Dies gilt auch für Niedersachsen; im Versammlungsgesetz des Landes heißt es im § 12 a: "Die Polizei darf Bild- und Tonaufnahmen von Teilnehmern bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen nur anfertigen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Die Maßnahmen dürfen auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden." Aus dem "Nur" und dem Passus "tatsächliche Anhaltspunkte" lässt sich allerdings folgern, dass friedliche Demonstrationen beispielsweise während der "Castor-Tage" nicht durch die Polizeikamera beäugt werden dürfen.
Noch ist das Berliner Urteil nicht rechtskräftig. Es kann beim Oberverwaltungsgericht durch Antrag auf Zulassung der Berufung angefochten werden.
BI freut sich über gewonnene Klage
Schon während der Demo hatten sich Teilnehmer von dem ständig mitfahrenden Kamerawagen der Polizei gestört gefühlt, teilte die BI mit. "Rund 50.000 Menschen demonstrierten am 5. September 2009 in Berlin gegen die Atomkraft und für den Abbruch des Endlagerprojekts in Gorleben. Es herrschte eine ausgelassene und kämpferische Stimmung, wir waren begeistert über das Wiedererstarken der Anti-Atom-Bewegung und wir hatten es geschafft, dass über Gorleben nicht nur während der Castor-Transporte berichtet wurde", erinnert die BI-Vorsitzende Kerstin Rudek.
"Während des Aufzuges vom Hauptbahnhof zu Brandenburger Tor fuhr ein Kleintransporter wenige Meter vor der Spitze des Demo-Zuges her, Einsatzkräfte der Polizei filmten permanent den Aufzug mit mehreren auf dem Dach des Transporters montierten Kameras: 'Filmen verboten!', forderten einzelne Demo-Teilnehmer an der Spitze des Zuges."
Die Polizei ließ sich jedoch nicht beeindrucken - die BI und Prof. Clemens Arzt von der Humanistischen Union gingen vor Gericht.
Die BI wird nun konsequenter Weise die jährliche Demo "Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn!" in Berlin am 11. September unterstützen, teilte Wolfgang Ehmke, Sprecher der BI mit. Denn die nächsten Großereignisse, ein weitere Berlin-Demo gegen Atomkraft am 18. September und der Protest gegen die Castor-Transporte im Herbst, und damit der Streit um die Überwachungsmanie stehen an: "Wir wollen, dass Tausende ohne Einschüchterung durch die Polizei sich an unseren Protesten beteiligen können", so BI-Pressesprecher Wolfgang Ehmke.
Foto: Andreas Conradt / Mit unzähligen Treckern und X-tausend Menschen zogen Atomkraftgegner Anfang September letzten Jahres gen Berlin. ...
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